2004
Mut und ein freundliches Wort
Juli 2004


Mut und ein freundliches Wort

„Denn meine Seele erfreut sich am Lied des Herzens; ja, das Lied der Rechtschaffenen ist ein Gebet für mich, und es wird mit einer Segnung auf ihr Haupt beantwortet werden.“ (LuB 25:12.)

Eine Begebenheit aus dem Leben von Evan Stephens

Evan ließ seinen Blick über die staubige Straße schweifen, als er von der Chorprobe nach Hause schlenderte. Alle anderen im städtischen Chor von Willard hatten sich über die Einladung, für Präsident Brigham Young zu singen, gefreut. Die Männer hatten sich gegenseitig auf die Schultern geklopft und die Frauen hatten hinter ihren Büchern und Fächern aufgeregt getuschelt. Niemandem fiel der niedergeschlagene Gesichtsausdruck des zwölfjährigen Evan auf, als er in seinen Stuhl sank. Der „Junge mit der Altstimme“, wie man ihn nannte, schlüpfte wortlos durch den Eingang der Kirche und machte sich allein auf den Heimweg.

Evans Problem war nicht, dass er nicht singen wollte. Musik war sein Leben. Als sich seine Familie in Willard, einer Stadt ungefähr 80 Kilometer nördlich von Salt Lake City, niederließ, freute er sich, als er von dem ungewöhnlich guten Chor der Stadt hörte. Als das zehnte Kind in seiner Familie hatte Evan zwischen der Arbeit auf der Farm und im Haushalt nur wenig Zeit gefunden, viel über die Musik zu lernen. Im städtischen Chor konnte er sich nun endlich mehr damit befassen. Jetzt ging er alles mit Musik im Herzen an – er bewegte sich rhythmisch bei der Arbeit und tanzte, wenn er die Kühe hütete.

Nein, die Aussicht, für den Propheten zu singen, bedrückte Evan nicht. Doch die Chormitglieder sollten bei diesem Auftritt ihre beste Sonntagskleidung tragen, und Evan hatte gar keine gute Kleidung. Seine Familie hatte nur wenig Geld. Er hatte noch nie einen schönen Mantel oder ein Paar schwarzer Sonntagsschuhe besessen. Er wollte nicht in schäbiger Kleidung vor dem Propheten auftreten.

Evan betrachtete seine staubigen Füße. Sie waren nach dem Fußmarsch mit Schmutz bedeckt. Er würde sie vor der Kirche am Sonntagmorgen kräftig abschrubben müssen. Andernfalls würde er sich mit schwarzen Füßen zeigen. Da kam ihm eine Idee: Er konnte seine Füße mit Schuhcreme so richtig schwarz machen. Jeder würde den Chorsängern ins Gesicht schauen, und so würde niemand bemerken, dass Evan schwarze Füße statt schwarzer Schuhe hatte.

Am Tag des Auftritts spürte Evan, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand und dass auch seine Handballen feucht waren, als er nach unten auf seine schwarzen Füße schaute. Er wusste, dass er sich auf den Weg machen musste, der Chor brauchte ihn ja. Doch er wollte sich so hinstellen, dass der Prophet ihn nicht sehen konnte. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, als er zu dem Gebäude lief, wo der Chor singen sollte.

Dort angekommen, blieb er stehen. Was wäre, wenn der Prophet ihn doch sah? Was würde er über einen armen Bauernjungen mit schwarz gefärbten Füßen und ohne Mantel denken? Evan musste verhindern, dass der Prophet ihn sah. Er drehte sich um und stob wie ein verängstigter Hengst davon – und lief genau dem Mann in die Arme, von dem er nicht gesehen werden wollte.

Präsident Brigham Young hielt den ängstlichen Jungen an den Schultern fest. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Präsident Young. „Wovor hast du Angst? Warum willst du davonlaufen?“

Evan stiegen Tränen in die Augen, als er den Kopf senkte und flüsterte: „Ich habe für den Auftritt keinen Mantel und keine Schuhe.“ Er hatte einen Kloß im Hals und musste schlucken, als er weiter erklärte: „Ich habe meine Füße mit Schuhcreme schwarz gefärbt.“

Der Prophet lockerte den Griff an Evans Schultern und strich ihm übers Haar. Evan schaute auf und sah zu seiner Überraschung, dass Präsident Young eine freundliche Miene machte und dass auch ihm die Tränen in den Augen standen. „Mach dir nichts draus“, sagte er zu Evan. „Zögere keinen Augenblick. Geh einfach rein.“

Evan fiel ein Stein vom Herzen. Er verkniff sich die Tränen und erwiderte das Lächeln des Propheten. Er beeilte sich, seinen Platz im Chor einzunehmen. Evan war glücklich, dass der Prophet ihn so akzeptiert hatte, wie er war, und sang seinen Part ohne Fehler.

Präsident Young hatte Evan ein freundliches Wort gesagt und ihm Mut gemacht, seinen Beitrag zu leisten. Diese Freundlichkeit blieb in Evan noch lange nach diesem Auftritt haften. Er beschäftigte sich weiter eifrig mit Musik und eignete sich selbständig neue Fähigkeiten an.

Als Erwachsener wurde Evan 1889 Dirigent des Tabernakelchors, was er bis 1916 blieb. Er schrieb auch zahlreiche Kirchenlieder und patriotische Lieder. Er blieb bescheiden und vergaß nie die Lektion, die er von dem Propheten gelernt hatte. Evan ging so mit seinen Mitmenschen um wie mit der Musik – mit Liebe. Und wie Präsident Young hörte auch er mit seinem Herzen.

Patricia Reece Roper gehört zur Gemeinde Leamington im Pfahl Delta in Utah.