2006
Kirstens Herausforderung
März 2006


Kirstens Herausforderung

Kirsten war unser zweites Kind und kam vor etwa 30 Jahren nach einer komplikationsreichen Schwangerschaft zur Welt. Gleich nach der Geburt stellten die Ärzte einen schweren Herzfehler bei Kirsten fest, und sie wurde rasch auf die Intensivstation des Kinderkrankenhauses verlegt. Mein Mann legte ihr im Brutkasten die Hände auf den winzigen Körper und gab ihr den ersten Priestertumssegen ihres Lebens – einen Willkommensgruß bei ihrer Ankunft auf Erden.

In den nächsten Tagen stand ich oft an der Glasscheibe der Intensivstation und blickte auf mein kleines Mädchen, das da um sein Leben rang. Wir durften sie nicht einmal berühren, und wir wussten nicht, was wir uns für sie wünschen sollten.

Als ich ohne unser Neugeborenes aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hegten mein Mann und ich den Wunsch, zum Tempel zu fahren. Für unsere kleine Kirsten konnten wir ja praktisch nichts tun. Wir mussten uns auf den Herrn und die Ärzte verlassen. Damals war der Tempel in der Schweiz der nächstgelegene – weit von unserem Zuhause in Hamburg entfernt; dennoch spürten wir: Wir mussten dort hin, um Kraft zu sammeln für eine ungewisse Zukunft. Wir setzten all unseren Glauben für unsere Tochter ein.

Die Ärzte hatten inzwischen einen seltenen Herzfehler festgestellt, der damals noch nicht operiert werden konnte. Patienten mit solch einem Herzfehler hatten nur eine äußerst geringe Lebenserwartung. Aber fünf Wochen später durften wir unsere kleine Kirsten mit nach Hause nehmen. Obwohl sie bestimmt Schmerzen litt, war sie doch ein fröhliches und lernbegieriges Wesen, und man konnte erkennen, dass sie gern bei uns in der Familie war und ihren älteren Bruder sehr lieb hatte.

Mit vier Jahren verschlechterte sich Kirstens Zustand allerdings, und sie wurde immer schwächer. Wir beteten, fasteten, fuhren zum Tempel und entschlossen uns schließlich, unsere Tochter in einer Herzklinik in München operieren zu lassen, wo die Ärzte vor kurzem einen ähnlich gelagerten Fall mit Erfolg behandelt hatten. Es war ein großer Eingriff – die Ärzte mussten die Herzkammern verkleinern, Löcher schließen und beide Herzklappen reparieren. Es war ein wahres medizinisches Kunstwerk. Wir waren sehr besorgt, und die ganze Gemeinde betete mit uns für unsere Tochter.

Am 21. Mai 1980 wurde Kirs- ten operiert, und nachdem das Schlimmste überstanden war und sie von der Intensivstation auf die normale Krankenstation verlegt worden war, waren wir recht zuversichtlich. Doch dann ereignete sich etwas Schlimmes. Ein winziges Blutgerinnsel aus einer reparierten Herzklappe setzte sich im Gehirn fest und führte innerhalb von Minuten zu einer völligen rechtsseitigen Lähmung und zum Verlust des Sprechvermögens. Aus Kirstens Augen sprachen Angst und Trauer. Für uns war das alles sehr schlimm. Ich weiß noch, wie mein Mann und ich in München in einer Telefonzelle standen und verzweifelt unseren Bischof anriefen. In den nächsten Tagen erhielten wir von den Mitgliedern unserer Gemeinde viele tröstliche Briefe. Auch das Fasten gab uns neue Kraft, um Kirsten Mut zu machen und dieses Unglück hinzunehmen.

In den nun folgenden Jahren folgte eine Therapie der anderen, und wir freuten uns über jeden noch so kleinen Fortschritt. Als Kirsten mit der Schule beginnen sollte, war sie gesundheitlich in der Lage, eine normale Grundschule zu besuchen. Sie entwickelte erstaunliche kompensatorische Fähigkeiten mit der linken Hand. Ihr rechtes Bein wurde stärker, und sie lernte schwimmen, Rad fahren und reiten. Sie freute sich ihres Lebens. Wenn ein Kind sie wegen ihres ein wenig seltsamen Ganges auslachte, zeigte ich ihm einfach Fotos aus dem Leben meiner Tochter, und aus Spott wurde Bewunderung.

Kirsten wurde von ihren Großeltern und anderen Verwandten viel Liebe entgegengebracht, und die Gemeinde kümmerte sich sehr um sie. Sie wiederum ließ jeden, mit dem sie zusammenkam, ihre Freude am Evangelium spüren, und sie ist aus unserer Familie diejenige, die die meisten Freunde zur Kirche gebracht hat.

Nach dem Schulabschluss machte Kirsten eine Lehre als Industriekauffrau und legte auch die Führerscheinprüfung ab. Mit ihrem behindertengerechten Auto war sie nun noch selbständiger und konnte an JAE-Tagungen teil-nehmen und Pfahl-Berufungen wahrnehmen. 1999 nahm sie sich ein Jahr Auszeit und erfüllte eine Mission im Frankfurt-Tempel.

Kirsten liebt Kinder und hat zu ihnen ein besonders inniges Verhältnis. Ihre Nichte, ihr Neffe und die PV-Kinder, sie alle lieben sie sehr. Sie ist uns ein Vorbild, denn sie lebt uns vor, dass man angesichts großer Drangsal doch nicht verbittert reagieren muss, sondern Frohsinn ausstrahlen kann.

2003 trat ein ganz besonders liebevoller junger Mann in Kirstens Leben, und allmählich bedeutete er ihr immer mehr. Er ist ein zurückgekehrter Missionar aus einer glaubenstreuen Familie der Kirche. Im August 2004 wurden er und Kirsten im Frankfurt-Tempel aneinander gesiegelt. Nun meistern sie die Herausforderungen des Lebens gemeinsam.

Zwei unserer Kinder sind körperbehindert. So etwas wünscht man sich nicht, wenn es aber so kommt, muss man es von ganzem Herzen annehmen, sich durch die Schwierigkeiten durchbeißen und daraus lernen. Man entwickelt ein gutes Gespür für die Eingebungen des Heiligen Geistes. Der Vater im Himmel weiß, welches Ungemach nötig ist, damit wir hier auf der Erde Fortschritt machen können. Ich habe meine Kinder oft damit getröstet: „Deine Körperbehinderung hast du nur hier auf der Erde, und das Erdenleben ist im Vergleich zur Ewigkeit ganz kurz.“

Angela Diener gehört zur Gemeinde Langenhorn im Pfahl Neumünster.