Generalkonferenz
Das beständige Mitgefühl des Erretters
Herbst-Generalkonferenz 2021


Das beständige Mitgefühl des Erretters

Der Wesenskern des Evangeliums Jesu Christi besteht darin, dass man Mitgefühl für andere ausdrückt

Einer der herausragendsten Grundsätze, die der Erretter im Laufe seines irdischen Wirkens lehrte, ist der mitfühlende Umgang mit unseren Mitmenschen. Denken wir doch über diesen Grundsatz und seine praktische Anwendung nach, indem wir uns den Bericht über den Besuch Jesu im Haus des Pharisäers Simon ins Gedächtnis rufen.

Im Lukasevangelium wird berichtet, dass eine Frau, die als Sünderin galt, Simons Haus betrat, als Jesus dort war. In demütiger Reue näherte sich die Frau Jesus, benetzte seine Füße mit ihren Tränen, trocknete sie mit ihrem Haar und küsste und salbte sie mit einem besonderen Öl.1 Der stolze Gastgeber, der überzeugt war, er sei der Frau moralisch überlegen, dachte sich voller Tadel und Überheblichkeit: „Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist.“2

Die selbstgerechte Einstellung des Pharisäers brachte ihn dazu, sowohl über Jesus als auch die Frau ungerecht zu urteilen. Doch in seiner Allwissenheit kannte der Erretter Simons Gedanken, und mit großer Weisheit hinterfragte er Simons herablassende Einstellung und rügte ihn wegen seines Mangels an Höflichkeit beim Empfang eines besonderen Gastes wie dem Erretter in seinem Haus. Tatsächlich diente der an den Pharisäer gerichtete Tadel als Beweis, dass Jesus in der Tat die Gabe der Prophezeiung besaß und dass diese Frau mit demütigem und zerknirschtem Herzen umgekehrt war und Vergebung für ihre Sünden empfing.3

Wie viele andere Ereignisse während des irdischen Wirkens Jesu zeigt dieser Bericht einmal mehr, dass der Erretter – ohne einen Unterschied zu machen – mit allen, die zu ihm kamen, und insbesondere mit denen, die seiner Hilfe am meisten bedurften, mitfühlend umging. Die Reue und ehrfürchtige Liebe, die die Frau Jesus entgegenbrachte, waren Beweis für ihre aufrichtige Umkehr und ihren Wunsch, Vergebung für ihre Sünden zu empfangen. Simons Überlegenheitskomplex und sein verhärtetes Herz4 hingegen hinderten ihn daran, dieser reumütigen Seele einfühlsam zu begegnen, und er sprach sogar vom Erretter der Welt mit Gleichgültigkeit und Verachtung. Seine Einstellung ließ erkennen, dass seine Lebensweise nur in der strengen, äußerlichen Einhaltung von Vorschriften bestand und in der Zurschaustellung seiner Überzeugungen durch Selbstverherrlichung und unechte Heiligkeit.5

Wie mitfühlend Jesus hier auf den Einzelnen einging, dient uns als vollkommenes Beispiel dafür, wie wir mit unserem Nächsten umgehen sollen. Die heiligen Schriften enthalten zahllose Beispiele dafür, wie der Erretter, angeregt durch tiefes und beständiges Mitgefühl, mit den Menschen seiner Zeit umging und den Leidenden und denen, die „müde und erschöpft [waren] wie Schafe, die keinen Hirten haben“6, half. Er streckte seine barmherzige Hand all jenen entgegen, die Erleichterung von ihrer körperlichen und geistigen Last brauchten.7

Die mitfühlende Einstellung Jesu hat ihre Wurzeln in der Nächstenliebe,8 nämlich seiner reinen und vollkommenen Liebe, die den Kern seines Sühnopfers bildet. Mitgefühl ist eine Grundeigenschaft all derer, die nach Heiligung streben, und diese göttliche Eigenschaft ist mit anderen christlichen Merkmalen verflochten, wie zum Beispiel mit den Trauernden zu trauern und Einfühlungsvermögen, Barmherzigkeit und Güte zu besitzen.9 In der Tat ist es der Wesenskern des Evangeliums Jesu Christi und ein deutlicher Beweis für unsere geistige und emotionale Nähe zum Erretter, wenn wir Mitgefühl für andere ausdrücken. Darüber hinaus zeigt unser Mitgefühl, inwieweit unsere Lebensweise vom Erretter beeinflusst wird, und offenbart die Größe unseres Geistes.

Es ist wichtig zu beachten, dass das mitfühlende Handeln Jesu keine gelegentliche oder vorgeschriebene Erscheinung war, die auf einer abzuhakenden Aufgabenliste basierte, sondern alltäglicher Ausdruck der Wahrhaftigkeit seiner reinen Liebe zu Gott und zu dessen Kindern und seines beständigen Wunsches, ihnen zu helfen.

Jesus war in der Lage, die Bedürfnisse der Menschen sogar aus der Ferne zu erkennen. So ist es zum Beispiel nicht überraschend, dass Jesus sich gleich nach der Heilung des Dieners eines Hauptmanns10 von Kafarnaum in die Stadt Naïn begab. Dort vollbrachte Jesus eines der bewegendsten Wunder seines irdischen Wirkens, als er einem verstorbenen jungen Mann, dem einzigen Sohn einer verwitweten Mutter, gebot, aufzustehen und zu leben. Jesus hatte nicht nur das tiefe Leid dieser armen Mutter wahrgenommen, sondern auch ihre schwierigen Lebensumstände, und sein Beweggrund war aufrichtiges Mitgefühl für sie.11

Genau wie die sündige Frau und die Witwe aus Naïn, suchen viele Menschen innerhalb unseres Einflussbereichs Trost, Aufmerksamkeit, Einbeziehung und jede Hilfe, die wir ihnen anbieten können. Wir alle können ein Werkzeug in der Hand des Herrn sein und Notleidenden gegenüber mitfühlend handeln, genau wie Jesus.

Ich kenne ein kleines Mädchen, das mit einer sehr schweren Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte geboren wurde. Es hatte die erste einer ganzen Reihe von Operationen am zweiten Tag seines Lebens. Angetrieben von aufrichtigem Mitgefühl für alle, die dieselbe schwierige Erfahrung durchmachen, bemühen sich dieses Mädchen und seine Eltern darum, denen, die sich diesem schwierigen Problem stellen müssen, Unterstützung, Verständnis und seelischen Beistand zu geben. Sie schrieben mir vor kurzem diese Worte: „Durch die Schwierigkeiten unserer Tochter war es uns vergönnt, wunderbare Menschen kennenzulernen, die Trost, Unterstützung und Zuspruch brauchten. Vor einiger Zeit sprach unsere inzwischen 11-jährige Tochter mit den Eltern eines Babys mit der gleichen Fehlbildung. Im Laufe dieses Gesprächs nahm unsere Tochter für einen Moment die Maske ab, die sie wegen der Pandemie trug, damit die Eltern sehen konnten, dass Grund zur Hoffnung besteht, obwohl ihr Baby noch einen langen Weg vor sich hat, bis das Problem in ein paar Jahren behoben ist. Wir sind sehr dankbar für die Gelegenheit, mit denen zu fühlen, die leiden, wie auch der Erretter mit uns fühlt. Jedes Mal, wenn wir den Schmerz eines anderen lindern, spüren wir, wie unser eigener Schmerz nachlässt.“

Meine lieben Freunde, wenn wir bewusst danach streben, eine mitfühlende Haltung in unsere Lebensweise aufzunehmen, wie der Erretter es vorgelebt hat, nehmen wir die Bedürfnisse der Menschen besser wahr. Mit dieser gesteigerten Wahrnehmung wird alles, was wir tun, von aufrichtigem Interesse und echter Liebe durchdrungen. Der Herr wird unser Bemühen anerkennen und uns gewiss mit Gelegenheiten segnen, ein Werkzeug in seiner Hand zu sein, um Herzen zu erweichen und denen, deren Hände herabgesunken12 sind, Linderung zu verschaffen.

Jesu Ermahnung an Simon den Pharisäer verdeutlicht außerdem, dass wir niemals ein harsches und grausames Urteil über unseren Nächsten fällen sollen, da wir alle wegen unserer Unvollkommenheiten auf das Verständnis und Erbarmen unseres liebevollen Vaters im Himmel angewiesen sind. War es nicht genau das, was der Erretter bei anderer Gelegenheit lehrte, als er sprach: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“13

Wir müssen berücksichtigen, dass es nicht einfach ist, alle Umstände zu verstehen, die bei jemandes Einstellung oder Reaktion eine Rolle spielen. Der Schein kann trügen und jemandes Verhalten daran zu messen, liefert oft ein unzutreffendes Ergebnis. Im Gegensatz zu uns ist Christus in der Lage, klar und deutlich alle Facetten einer gegebenen Situation zu sehen.14 Auch wenn er all unsere Schwächen kennt, verurteilt uns der Erretter nicht voreilig, sondern bemüht sich voller Mitgefühl weiter um uns und hilft uns, im Laufe der Zeit den Balken aus unserem Auge zu entfernen. Jesus betrachtet immer das Herz, nicht das Äußere.15 Er selbst hat verkündet: „Urteilt nicht nach dem Augenschein!“16

Beachten Sie nun den weisen Rat, den der Erretter den zwölf nephitischen Jüngern zu dieser Frage gab:

„Und wisset, dass ihr Richter dieses Volkes sein werdet, gemäß dem Richterspruch, den ich euch gebe und der gerecht sein wird. Darum: Was für Männer sollt ihr sein? Wahrlich, ich sage euch: So, wie ich bin.“17

„Darum möchte ich, dass ihr vollkommen seiet, so wie ich oder euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist.“18

In diesem Zusammenhang fällt der Herr ein Urteil über jene, die sich anmaßen, ungerecht über die vermeintlichen Unzulänglichkeiten anderer zu urteilen. Damit wir gerecht urteilen können, müssen wir danach streben, wie der Erretter zu werden und mitfühlend – ja, mit seinen Augen – auf die Unvollkommenheiten eines Menschen zu blicken. Angesichts dessen, dass noch ein weiter Weg vor uns liegt, bis wir Vollkommenheit erreichen, wäre es vielleicht besser, wenn wir zu Jesu Füßen säßen und für unsere eigene Unvollkommenheit um Barmherzigkeit flehten, wie die reuige Frau im Haus des Pharisäers, statt so viel Zeit und Energie darauf zu verwenden, auf die vermeintlichen Unvollkommenheiten anderer fixiert zu sein.

Meine lieben Freunde, ich bezeuge Ihnen: Wenn wir danach streben, das beispielhafte Mitgefühl des Erretters in unser Leben aufzunehmen, wächst unsere Fähigkeit, unserem Nächsten für seine Tugenden ein Kompliment zu machen, während unser natürlicher Instinkt, über seine Unvollkommenheiten zu urteilen, nachlässt. Wir rücken enger mit Gott zusammen, und gewiss wird unser Leben schöner, werden unsere Gefühle sanfter, und wir entdecken eine nie versiegende Quelle des Glücks. Dann kennt man uns als Friedensstifter,19 deren Worte so sanft sind wie der Tau an einem Frühlingsmorgen.

Ich bete, dass wir anderen gegenüber langmütiger und verständnisvoller werden und dass die Gnade des Herrn in vollkommener Sanftmut unsere Ungeduld mit ihren Unvollkommenheiten besänftigt. Dazu fordert uns der Erretter auf. Ich bezeuge, dass er lebt. Er ist das vollkommene Beispiel dafür, wie man ein barmherziger und geduldiger Jünger ist. Für diese Wahrheiten lege ich Zeugnis ab im heiligen Namen des Erretters Jesus Christus. Amen.