Generalkonferenz
In Christus wachsen: Das Gleichnis von der Steigung
Herbst-Generalkonferenz 2021


In Christus wachsen: Das Gleichnis von der Steigung

Im Zeitplan des Herrn ist es viel entscheidender, wo wir hinwollen, als wo wir anfangen

Als kleiner Junge hatte ich große Ziele. Eines Tages nach der Schule fragte ich: „Mama, was soll ich werden, wenn ich groß bin: Profi-Basketballer oder Rockstar?“ Leider sah weder die sportliche noch die musikalische Zukunft von Clark, dem „zahnlosen Wunder“, vielversprechend aus, und trotz zahlreicher Versuche wurde mir der Zugang zum Leistungskursprogramm an meiner Schule immer wieder verwehrt. Meine Lehrer empfahlen mir schließlich, einfach bei den Grundkursen zu bleiben. Mit der Zeit entwickelte ich Lerngewohnheiten, mit denen ich manches ausgleichen konnte. Erst während meiner Mission in Japan schien sich, so fand ich, mein intellektuelles und geistiges Potenzial abzuzeichnen. Ich arbeitete weiterhin hart. Doch zum ersten Mal in meinem Leben bezog ich systematisch den Herrn in meine Entwicklung ein, und das machte einen Riesenunterschied.

Bild
Elder Gilbert als kleiner Junge
Bild
Elder Gilbert als Missionar

Brüder und Schwestern, in dieser Kirche glauben wir an das göttliche Potenzial aller Kinder Gottes und an unsere Fähigkeit, in Christus viel mehr in uns zu entfalten. Im Zeitplan des Herrn ist es viel entscheidender, wo wir hinwollen, als wo wir anfangen.1

Um dieses Prinzip zu veranschaulichen, greife ich einmal auf Grundlagen aus der Mathematik zurück. Nur keine Aufregung, weil bei der Generalkonferenz von Mathe die Rede ist! Die mathematische Fakultät der BYU Idaho hat mir versichert, dass selbst ein Anfänger dieses Kernkonzept verstehen wird. Es beginnt mit der Formel für eine Linie. Der Ausgangspunkt ist, für unsere Zwecke, der Anfang der Linie. Der Ausgangspunkt kann entweder weiter unten oder weiter oben sein. Die Steigung der Linie kann dann positiv oder negativ verlaufen.

Bild
Slopes and intercepts

Der Ausgangspunkt für das irdische Leben ist für jeden von uns anders. Wir beginnen an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Lebensumständen. Bei manchen liegt der Ausgangspunkt höher; ihnen stehen schon ab der Geburt viele Türen offen. Andere sind schwierigen Anfangsbedingungen ausgesetzt, die ungerecht erscheinen.2 Wir gehen dann durchs Leben, entlang der Steigung unseres persönlichen Fortschritts. Unsere Zukunft wird weitaus weniger von unserem Ausgangspunkt als vielmehr von dieser Steigung bestimmt. Ganz gleich, wo wir anfangen: Jesus Christus erkennt das göttliche Potenzial. Er sah es im Bettler, im Sünder und im Schwachen. Er sah es im Fischer, im Zöllner und selbst im Zeloten. Unabhängig davon, wo wir beginnen, bemisst Christus das, was wir tun, an dem, was uns gegeben ist.3 Während die Welt ihren Blick auf unseren Ausgangspunkt richtet, richtet Gott seinen auf unsere Steigung. Mit der ihm eigenen Rechenart tut der Herr alles, um uns zu helfen, unsere Steigung gen Himmel zu richten.

Dieser Grundsatz sollte diejenigen trösten, die zu kämpfen haben, und diejenigen innehalten lassen, die scheinbar alle Vorteile auf ihrer Seite haben. Ich richte mich zunächst an diejenigen mit schwierigen Anfangsbedingungen, wie etwa Armut, begrenzter Zugang zu Bildung oder schwierige Familienverhältnisse. Andere sind von körperlichen Herausforderungen, Einschränkungen der psychischen oder seelischen Gesundheit oder maßgeblichen genetischen Veranlagungen betroffen.4 Allen, die wegen eines schwierigen Ausgangspunktes zu kämpfen haben, möchte ich sagen: Der Erretter weiß, womit wir ringen. Er hat unsere Schwächen auf sich genommen, „auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei …, damit er … wisse, wie er [uns] beistehen könne gemäß [unseren] Schwächen“5.

Ich möchte denjenigen, die schwierigen Ausgangsbedingungen ausgesetzt sind, Mut zusprechen und dazu zwei Herangehensweisen nennen. Erstens, konzentrieren Sie sich auf Ihr Ziel und nicht auf Ihren Ausgangspunkt. Es wäre falsch, seine Lebensumstände zu ignorieren – sie sind ja wirklich gegeben und irgendwie muss man damit umgehen. Wenn Sie jedoch den Blick zu sehr auf den schwierigen Ausgangspunkt richten, könnte dies bewirken, dass Sie sich darüber definieren und sogar Ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, beschränken.6

Bild
Junge Männer in Boston

Vor Jahren habe ich mit einer Gruppe Jugendlicher aus dem Stadtzentrum Bostons gearbeitet, für die das Evangelium und die Erwartungen, die die Kirche in uns setzt, größtenteils neu waren. Die Versuchung war groß, mein Mitgefühl und mein Verständnis ihrer Situation damit zu verquicken, dass ich die Maßstäbe Gottes gern etwas gesenkt hätte.7 Schließlich wurde mir bewusst, dass ich ihnen meine Liebe am besten dadurch zeigen konnte, dass ich meine Erwartungen zu keinem Zeitpunkt senkte. Nach besten Kräften richteten wir den Blick gemeinsam auf ihr Potenzial, und sie alle begannen, ihre Steigung nach oben auszurichten. Ihr Wachstum im Evangelium verlief langsam, aber stetig. Sie sind seitdem auf Mission gegangen, haben das College abgeschlossen, im Tempel geheiratet und führen ein ausgezeichnetes Privat- und Berufsleben.

Bild
Die jungen Männer aus Boston<nb/>– jetzt als Erwachsene

Zweitens, beziehen Sie den Herrn dabei ein, Ihre Steigung zu erhöhen. Als Präsident von BYU Pathway Worldwide saß ich einmal in Lima, der Hauptstadt Perus, in einer Andacht mit vielen Teilnehmern. Elder Carlos A. Godoy war dort der Redner. Als er seinen Blick über das Publikum schweifen ließ, schien er überwältigt zu sein, so viele glaubenstreue Studenten der ersten Generation zu beobachten. Wahrscheinlich dachte Elder Godoy an seinen eigenen Weg mitten durch ähnlich schwierige Umstände, denn er sagte sichtlich bewegt: Der Herr wird „euch mehr helfen, als ihr euch selbst helfen könnt. [Bezieht daher] den Herrn beim weiteren Fortgang ein.“8 Der Prophet Nephi hat erklärt, „dass wir durch Gnade errettet werden, nach allem, was wir tun können“9. Wir müssen unser Bestes tun,10 wozu auch die Umkehr gehört, aber nur durch die Gnade des Herrn können wir unser göttliches Potenzial verwirklichen.11

Bild
Andacht von BYU Pathway in Lima in Peru
Bild
Elder Godoy spricht in Lima in Peru

Lassen Sie mich zum Schluss noch denjenigen zwei Ratschläge geben, deren Ausgangspunkt weiter oben lag. Erstens, können wir Demut an den Tag legen hinsichtlich der Umstände, die wir vermutlich gar nicht selbst geschaffen haben? Dazu passt, was der ehemalige Präsident der BYU, Rex E. Lee, vor der Studentenschaft zitiert hat: „Wir haben alle aus Zisternen getrunken, die wir nicht ausgehauen, und uns an Lagerfeuern gewärmt, die wir nicht aufgeschichtet haben.“12 Er forderte die Studenten dann auf, sich zu revanchieren, und die Zisternen der Bildung, die ihre Vorgänger ausgehauen hatten, aufzufüllen. Versäumt man es, Felder, die jemand anders angelegt hat, erneut zu bepflanzen, ist es so, als gäbe man ein Talent ohne jedweden Zugewinn zurück.

Zweitens, wenn wir den Blick nur auf unseren erhöhten Ausgangspunkt richten, kann das zu dem fälschlichen Eindruck führen, dass wir prima vorankommen, obwohl unsere innere Steigung tatsächlich einen ziemlich geringen Anstiegswinkel hat. Der Harvard-Professor Clayton M. Christensen hat erklärt: Die erfolgreichsten Menschen sind zugleich die demütigsten, weil sie selbstsicher genug sind, um die Zurechtweisung anderer anzunehmen und von ihnen zu lernen.13 Elder D. Todd Christofferson hat uns geraten, „Zurechtweisung bereitwillig anzunehmen und sie sogar anzustreben“14. Selbst wenn alles gut zu laufen scheint, müssen wir uns um Gelegenheiten bemühen, uns zu verbessern, indem wir im Gebet darum bitten.

Unabhängig davon, ob unser Ausgangspunkt von sehr günstigen oder von schwierigen Umständen geprägt ist, wird uns unser größtes Potenzial erst bewusst, wenn wir eine Partnerschaft mit Gott eingehen. Kürzlich unterhielt ich mich mit einem hierzulande bekannten Bildungsexperten, der sich nach dem Erfolg von BYU Pathway erkundigte. Das Interesse dieses klugen Mannes war aufrichtig, aber er suchte eindeutig nach einer weltlichen Antwort. Ich erzählte ihm von unseren Programmen zur Bindung und Begleitung der Studenten. Doch ich schloss dann mit der Bemerkung: „Dies sind alles bewährte Verfahrensweisen, aber der eigentliche Grund, warum unsere Studenten Fortschritt machen, liegt darin, dass wir ihnen ihr göttliches Potenzial bewusstmachen. Stellen Sie sich vor, man hätte Ihnen Ihr Leben lang gesagt, Sie würden es nie schaffen. Und jetzt überlegen Sie, was es bedeutet, wenn Ihnen gesagt wird, dass Sie ein Sohn oder eine Tochter Gottes mit göttlichem Potenzial sind.“ Er dachte kurz nach und antwortete dann schlicht: „Das ist machtvoll.“

Brüder und Schwestern, eines der Wunder dieser Kirche, der Kirche des Herrn, ist, dass jeder von uns in Christus wachsen kann. Ich kenne keine andere Organisation, die ihren Mitgliedern mehr Gelegenheit gibt, für andere da zu sein, etwas zurückzugeben, umzukehren und bessere Menschen zu werden. Ob unser Ausgangspunkt nun von sehr günstigen oder schwierigen Umständen geprägt ist: Lassen Sie uns den Blick und unsere Steigung stets gen Himmel richten. Wenn wir das tun, wird Christus uns auf eine höhere Ebene heben. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Siehe Clark G. Gilbert, „The Mismeasure of Man“, Andacht von BYU Pathway Worldwide am 12. Januar 2021, byupathway.org/speeches. In dieser Botschaft sprach ich darüber, wie oft die Welt das Potenzial des Menschen falsch einschätzt. Selbst wohlmeinende Menschen ziehen zuweilen wichtige Werke führender Psychologen heran, die sich für Konzepte wie GRIT (Angela Duckworth) oder ein dynamisches Selbstbild (Carol S. Dweck) aussprechen. Dabei unterschätzen sie, wozu der Mensch wirklich fähig ist, wenn sie sich nur auf erlernte Muster stützen und unser göttliches Potenzial in Christus außer Acht lassen.

  2. Siehe Dale G. Renlund, „Himmelschreiende Ungerechtigkeit“, Liahona, Mai 2021, Seite 41–45

  3. Siehe Matthäus 25:14-30. Im Gleichnis von den Talenten erhielt jeder Diener eine unterschiedliche Anzahl an Talenten von ihrem Herrn. Doch wurden sie nicht danach beurteilt, was sie erhalten hatten, sondern danach, wie sie damit umgegangen waren. Es war der Zugewinn, der den Herrn zu der Aussage brachte: „Sehr gut, du tüchtiger und treuer Diener. Über Weniges warst du treu, über Vieles werde ich dich setzen.“ (Matthäus 25:21.)

  4. Siehe Mosia 3:19. Eine mögliche Theorie lautet, dass der Einfluss des natürlichen Menschen aufgrund unterschiedlicher genetischer Veranlagungen unterschiedlich stark ausgeprägt sein könnte. So wie wir alle mit unterschiedlichen Gaben bedacht worden sind, sind wir auch alle mit unterschiedlichen körperlichen, mentalen und emotionalen Herausforderungen konfrontiert, die wir zu bewältigen und zu überwinden lernen müssen.

  5. Alma 7:12. Christus hilft uns nicht nur, unsere Sünden durch Umkehr zu überwinden, sondern weiß auch, wie er uns bei Problemen und Schwierigkeiten trösten kann, weil er im Zuge des Sühnopfers alles menschliche Leid gefühlt und überwunden hat.

  6. Elder David A. Bednar erinnert uns daran, dass wir eigenständig handeln müssen. Wenn wir uns über das Schubladendenken der Welt definieren, begrenzen wir unser göttliches Potenzial und damit auch auch unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. (Siehe David A. Bednar, „Sie werden keinen Anstoß nehmen“, Liahona, November 2006, Seite 89–92.)

  7. Siehe Russell M. Nelson, „The Love and Laws of God“, Andacht an der Brigham-Young-Universität am 17. September 2019, speeches.byu.edu. In dieser Andacht erklärt Präsident Nelson: Gerade weil Gott und sein Sohn uns lieben, haben sie uns Gesetze gegeben und stellen Erwartungen an uns, um uns zu helfen. „Gottes Gesetze spiegeln seine vollkommene Liebe für jeden von uns wider. Seine Gesetze sorgen für unsere geistige Sicherheit und verhelfen uns zu ewigem Fortschritt.“ (Seite 2.)

  8. Carlos A. Godoy, Connections Conference von BYU Pathway in Lima in Peru am 3. Mai 2018

  9. 2 Nephi 25:23

  10. Meine Eltern führten im Kreis der Angehörigen und Verwandten der Familie Gilbert das Familienmotto „TU DEIN BESTES“ ein. Man kann das Gleichnis von der Steigung auch so betrachten: Wenn wir unser Bestes tun, können wir darauf vertrauen, dass Gott eingreift und das ausgleicht, was wir selbst nicht schaffen.

  11. Siehe Clark G. Gilbert, „From Grit to Grace“, Andacht von BYU Pathway Worldwide am 25. September 2018, byupathway.org/speeches. In dieser Botschaft beschäftige ich mich mit dem Gedanken, dass wir, obgleich wir lernen müssen, hart zu arbeiten und hilfreiche Muster für Disziplin zu entwickeln, unser wahres Potenzial in Jesus Christus nur erreichen, wenn wir lernen, seine Gnade in Anspruch zu nehmen.

  12. Rex E. Lee, „Some Thoughts about Butterflies, Replenishment, Environmentalism, and Ownership“, Andacht an der Brigham-Young-Universität am 15. September 1992, Seite 2, speeches.byu.edu; siehe auch Deuteronomium 6:11

  13. Siehe Clayton M. Christensen, „How Will You Measure Your Life“, Harvard Business Review, Juli/August 2010, hbr.org. Diese Botschaft wurde ursprünglich als Rede anlässlich einer Abschlussfeier an der Harvard Business School gehalten. Darin mahnte Professor Christensen seine Studenten, Selbstvertrauen nicht von Demut loszulösen, und erinnerte sie daran, dass sie im Leben nur dann weiter Fortschritt machen würden, wenn sie demütig genug seien, sich um Zurechtweisung zu bemühen und von anderen zu lernen.

  14. D. Todd Christofferson, „Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht“, Liahona, Mai 2011, Seite 98