Generalkonferenz
Ein Prozent besser
Herbst-Generalkonferenz 2021


Ein Prozent besser

Jede Anstrengung, etwas zu ändern – mag sie uns auch noch so winzig erscheinen –, könnte den größten Einfluss auf unser Leben haben

Über mehr als ein Jahrhundert hinweg waren die britischen Mannschaften im Radrennsport Zielscheibe des Spotts in der Radsportwelt. Die Fahrer aus Großbritannien kamen über das Mittelmaß einfach nicht hinaus und hatten in 100 Jahren Olympischer Wettbewerbe nur eine Handvoll Goldmedaillen gewonnen. Noch mehr enttäuschten sie beim krönenden Ereignis des Radsports, der dreiwöchigen Tour de France, bei der sich in 110 Jahren kein britischer Radfahrer durchsetzen konnte. Die Misere der britischen Fahrer war so groß, dass einige Fahrradhersteller sich sogar weigerten, Räder an die Briten zu verkaufen, weil sie befürchteten, dies würde den hart erarbeiteten Ruf des Unternehmens für immer besudeln. Trotz enormer Investitionen in Spitzentechnologie und in jedes noch so neuartige Trainingsprogramm führte nichts zum erhofften Erfolg.

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Britische Radsportler

Dies setzte sich fort, bis im Jahr 2003 eine kleine, weitgehend unbemerkte Änderung eintrat, die den britischen Radsport für immer verändern sollte. Der neue Ansatz verdeutlicht auch einen ewigen Grundsatz – und die damit verbundene Verheißung – hinsichtlich unseres oftmals verwirrenden menschlichen Strebens, uns selbst zu verbessern. Was geschah also im britischen Radsport, was auch für unser Bestreben, bessere Töchter und Söhne Gottes zu werden, relevant ist?

2003 wurde Sir Dave Brailsford unter Vertrag genommen. Anders als die früheren Trainer, die alles daransetzten, einen dramatischen Wandel über Nacht zu erzielen, verfolgte Sir Brailsford eine Strategie, die er als „das Ansammeln geringfügiger Steigerungen“ bezeichnete. Dies bedeutete, dass man in allem winzige Verbesserungen vornahm. Es ging um die kontinuierliche Auswertung wichtiger Statistiken sowie darum, dass man bestimmte Schwächen gezielt in Angriff nahm.

Dies ähnelt dem, was der Prophet Samuel der Lamanit als „umsichtig [wandeln]“1 bezeichnete. Mit dieser umfassenderen, ganzheitlichen Perspektive vermeiden wir, uns in kurzsichtiger Weise nur auf das offensichtliche Problem oder die naheliegendste Sünde zu konzentrieren. Brailsford erklärte: „Das ganze Prinzip gründete auf der Vorstellung, dass sich letztlich eine deutliche Steigerung ergibt, wenn man alles, was in irgendeiner Weise mit dem Radfahren zu tun hat, in seine Bestandteile zerlegt, um jeden Aspekt um ein einziges Prozent zu verbessern, und anschließend alles wieder zusammensetzt.“2

Sein Ansatz stimmt mit dem des Herrn überein, der uns die Bedeutung des einen Prozents – auch auf Kosten der übrigen 99 Prozent – nahebrachte. Natürlich ging es dabei um die im Evangelium verankerte Pflicht, Menschen in Not ausfindig zu machen. Aber was ist, wenn wir dasselbe Prinzip auf den äußerst edlen und erhebenden zweiten Grundsatz des Evangeliums anwenden, nämlich die Umkehr? Anstatt uns selbst auszubremsen durch aufreibende drastische Schwankungen zwischen Sünde und Umkehr, was ist, wenn wir unseren Fokus verkleinern – und doch zugleich erweitern? Anstatt zu versuchen, alles zu vervollkommnen, was ist, wenn wir nur eine Sache in Angriff nehmen?

Was, wenn Sie mit Ihrer neuen Weitwinkelperspektive beispielsweise feststellen, dass Sie es versäumt haben, täglich im Buch Mormon zu lesen? Anstatt verzweifelt alle 702 Seiten in einer Nacht durchzuackern, was, wenn Sie sich stattdessen vornehmen, nur ein Prozent davon zu lesen – also sieben Seiten am Tag – oder ein anderes für Sie geeignetes Ziel? Könnte das stetige Ansammeln geringfügiger Steigerungen letztendlich der Weg zum Sieg über die lästigsten unserer Unzulänglichkeiten sein? Kann dieser Ansatz, unsere Fehler in mundgerechten Happen anzugehen, tatsächlich funktionieren?

Der gefeierte Autor James Clear erklärt jedenfalls, dass diese Strategie die Rechnung zu unseren Gunsten ausfallen lässt. Er stellt fest, dass „Gewohnheiten … der Zinseszins der Selbstoptimierung [sind]. Wenn man bei etwas ein Jahr lang jeden Tag ein Prozent besser wird, hat man sich am Jahresende um das Siebenunddreißigfache verbessert.“3

Brailsfords kleine Verfeinerungen begannen beim Offensichtlichen wie etwa Ausrüstung, Trikotmaterial und Trainingspläne. Aber sein Team ging noch weiter. Sie fanden weiterhin minimale Verbesserungsmöglichkeiten in bis dahin unberücksichtigten und unerwarteten Bereichen wie etwa Ernährung oder Feinheiten bei der Fahrradwartung. Im Laufe der Zeit führten die zahllosen winzigen Verfeinerungen zu verblüffenden Ergebnissen, die schneller eintraten, als irgendjemand erwartet hätte. Sie hielten sich wahrhaftig an den ewigen Grundsatz „Zeile um Zeile[,] Weisung um Weisung, hier ein wenig und dort ein wenig“4.

Werden kleine Anpassungen die ersehnte „mächtige Wandlung“5 herbeiführen? Bei der richtigen Umsetzung bin ich mir da zu 99 Prozent sicher! Die einzige Mahnung bei diesem Ansatz besteht darin, dass sich kleine Verbesserungen nur dann ansammeln, wenn man sich Tag für Tag konsequent bemüht. Und auch wenn wir bestimmt keine Vollkommenheit erreichen, müssen wir entschlossen sein, ebenso viel Ausdauer wie Geduld aufzubringen. Dann werden uns die süßen Früchte vermehrter Rechtschaffenheit die Freude und den Frieden bescheren, nach denen wir streben. Präsident Russell M. Nelson hat ja gesagt: „Nichts ist befreiender, erhebender oder entscheidender für unseren persönlichen Fortschritt, als sich regelmäßig jeden Tag mit der Umkehr zu befassen. Umkehr ist kein Ereignis, sondern ein Vorgang. Es ist der Schlüssel zu Glück und Seelenfrieden. In Verbindung mit Glauben eröffnet uns die Umkehr Zugang zur Macht des Sühnopfers Jesu Christi.“6

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Senfkorn
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Senfbaum

Dass Umkehr Glauben voraussetzt, geht klar aus den heiligen Schriften hervor. Zunächst ist nicht mehr notwendig, als „zu einem kleinen Teil Glauben [auszuüben]“7. Und wenn wir diese „Senfkorn“-Mentalität8 verinnerlichen, können wir ebenfalls unerwartete und außergewöhnliche Verbesserungen in unserem Leben erwarten. Aber denken Sie daran: So wie wir nicht den Versuch unternehmen, aus Attila dem Hunnen über Nacht Mutter Teresa zu machen, sollten wir unser Vorgehen hinsichtlich Verbesserungen schrittweise neu ausrichten. Auch wenn in Ihrem Leben umfassende Veränderungen vonnöten sind, fangen Sie im Kleinen an. Dies trifft besonders dann zu, wenn Sie sich überlastet oder mutlos fühlen.

Dieser Vorgang läuft nicht immer linear ab. Selbst bei den Entschlossensten kann es zu Rückschlägen kommen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie frustrierend es ist, wenn es einem manchmal so vorkommt, als ginge man ein Prozent vorwärts und zwei Prozent rückwärts. Wenn wir jedoch in unserer Entschlossenheit, diese Ein-Prozent-Steigerung zu erkämpfen, nicht nachlassen, wird er, der „unsere Schmerzen auf sich geladen“9 hat, ganz sicher auch uns tragen.

Wenn wir in schwere Sünden verwickelt sind, ist der Herr klar und unmissverständlich: Wir müssen damit aufhören, Hilfe von unserem Bischof erhalten und uns sofort von solchen Verhaltensweisen abwenden. Elder David A. Bednar hat uns aufgetragen: „Kleine, beständige, zunehmende Verbesserungen – so sollen wir nach dem Willen des Herrn vorangehen. Die Vorbereitung darauf, schuldlos vor dem Herrn zu wandeln, ist ein Hauptzweck des Erdenlebens und ein lebenslanges Unterfangen; man erreicht es nicht durch sporadische Schübe intensiver geistiger Aktivität.“10

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Britische Radsportler

Aber funktioniert dieser minimalistische Ansatz beim Thema Umkehr und wahre Veränderung tatsächlich? Gilt hier: „Probieren geht über Studieren“? Sehen Sie sich an, wie sich der britische Radsport in den letzten zwei Jahrzehnten nach Einführung dieser Philosophie entwickelt hat. Britische Radsportler gewannen die legendäre Tour de France mittlerweile erstaunliche sechs Mal. Während der letzten vier Olympischen Spiele war Großbritannien das erfolgreichste Land in allen Radsportdisziplinen. Und bei den erst kürzlich durchgeführten Olympischen Spielen in Tokio gewann das Vereinigte Königreich mehr Goldmedaillen im Radsport als jedes andere Land.

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Olympiasieger

Fotos der britischen Radsportler und -sportlerinnen von (im Uhrzeigersinn von oben links) Friedemann Vogel, John Giles und Greg Baker/Getty Images

Aber unsere kostbare Verheißung auf unserem Weg in die Ewigkeit, nämlich dass wir tatsächlich in Christus triumphieren werden,11 stellt Silber und Gold in den Schatten. Und wenn wir uns verpflichten, kleine, aber stetige Verbesserungen vorzunehmen, ist uns ein „nie verwelkende[r] Kranz der Herrlichkeit“12 verheißen. Mit der Aussicht auf diesen herrlichen, unvergänglichen Glanz kann ich nur empfehlen, dass Sie Ihr Leben überprüfen und herausfinden, was Sie auf dem Weg der Bündnisse aufhält oder verlangsamt. Erweitern Sie dann Ihren Blick. Bemühen Sie sich um einfache, erreichbare Verbesserungen in Ihrem Leben, die in der süßen Freude münden, ein wenig besser geworden zu sein.

Denken Sie daran: David brauchte nur einen kleinen Stein, um einen scheinbar unüberwindbaren Riesen zu besiegen. Aber er hatte noch vier weitere Steine parat. Und auch die schlechte Gesinnung und die ewige Bestimmung von Alma dem Jüngeren wandelten sich durch nur einen einfachen, erhebenden Gedanken: die Erinnerung an die Lehren seines Vaters über die erlösende Gnade Jesu Christi. Ebenso erlebte es der Erretter, der, obwohl er frei von Sünde war, „zuerst nicht von der Fülle [empfing], sondern … von Gnade zu Gnade [ging], bis er eine Fülle empfing“13.

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Jesus Christus

Er ist es, der weiß, wann ein Spatz vom Himmel fällt, der die kleinen und großen Momente in unserem Leben im Blick hat und der jetzt bereitsteht, Ihnen bei Ihrem Ein-Prozent-Ziel beizustehen, das Sie infolge dieser Konferenz anstreben. Denn jede Anstrengung, etwas zu ändern – mag sie uns auch noch so winzig erscheinen –, könnte den größten Einfluss auf unser Leben haben.

In diesem Sinne erklärte Elder Neal A. Maxwell: „Jedes Einstehen für einen rechtschaffenen Wunsch, jeder Akt des Dienens und der Gottesverehrung, so klein sie für sich genommen auch sein mögen, beschleunigen unser geistiges Wachstum.“14 Durch Kleines und Einfaches, ja, sogar durch nur ein Prozent wird wahrhaftig Großes zustande gebracht.15 Der endgültige Sieg ist zu 100 Prozent sicher, „nach allem, was wir tun können“16, und zwar durch die Macht, Verdienste und Barmherzigkeit unseres Herrn und Erretters Jesus Christus. Dies bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.