2003
Sein Bestes geben
Januar 2003


Sein Bestes geben

Los, komm“, sagte Benjamin zu seinem Freund, der mit ihm Wache hatte. „Wir können uns nicht einfach drücken.“ Benjamin Platt hatte einen dicken Kloß im Hals. Das Schlucken fiel ihm schwer. Beim Sprechen biss er die Zähne zusammen, damit ihm der Rachen nicht so wehtat. Wenn er daheim in England krank gewesen war, hatte er sich ins Bett gelegt. Als Mitglied der Martin-Handkarrenabteilung jedoch konnte er sich nicht einfach hinlegen und warten, bis er wieder gesund war.

Schnee wehte den beiden Männern ins Gesicht, so dass sie fast nichts mehr sahen. Der gefrorene Boden war uneben und sie gerieten häufig ins Stolpern.

„Wir müssen weitergehen“, sagte Benjamin so entschieden wie möglich. „Wir müssen noch die andere Seite des Lagers untersuchen.“

„Warum?“, fragte sein Freund. „Was bewachen wir denn?“

„Die Vorräte des Lagers.“

Der andere Mann lachte leise. „Wir haben keine Vorräte. Wir haben nichts.“

Benjamin wusste, dass er Recht hatte. Das Lager hatte nur sehr wenig. Vor Hunger tat ihm der Magen weh. Sein Atem ging flach, und er fühlte sich schrecklich erschöpft. Er wollte sich nur noch auf die gefrorene Erde legen und schlafen, aber er wusste auch, dass dies den sicheren Tod bedeutet hätte. Deshalb drängte er sich und seinen Begleiter weiter. Sie schleppten sich mühsam rund um das Lager und warteten darauf, dass der erste Schein des neuen Tages die kalte Nacht durchdrang.

Gestern hatte sich die Handkarrenabteilung nur ein kurzes Stück vom Fluss Platte entfernt. Der größte Teil des Schnees war tagsüber geschmolzen und hatte den Weg aufgeweicht. Der Lehm klebte an der Kleidung der Pioniere. Als die Sonne hinter den dunklen Wolken unterging, fing der schwere Lehm an zu gefrieren. Alle waren schmutzig. Benjamin erkannte die meisten Mitglieder der Handkarrenabteilung an den Augen und an der Stimme, aber nicht am Gesicht. Was nicht mit Lumpen bedeckt war, war voller Lehm und Dreck

„Ich kann nicht mehr weiter“, stöhnte sein Freund nun. „Ich habe mein Bestes gegeben, aber es reicht nicht.“

Benjamin schaute seinen erschöpften Freund an. Dessen Gesicht starrte vor Dreck; im Haar hatte er gefrorene Lehmklumpen. Die Hände waren mit Lumpen umwickelt. Die Hosen waren zerrissen und ließen die blau gefrorene Haut sehen. Die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, während er darüber klagte, dass er nicht stark genug sei.

Benjamin legte ihm die Hand auf die Schulter und half ihm beim Weg um das Lager. „Ist schon gut, Bruder. Denk einfach an ein Gedicht, das mein Vater mir immer vorgesagt hat:

„Ob du Herr bist

oder Knecht,

tu dein Bestes,

tu es recht.“

Nach einer weiteren mühsamen Runde um das Lager kroch Benjamins Freund in ein Zelt, um zu schlafen. Benjamin begann seine Runde erneut. Er hörte den Wind pfeifen und sah, wie die Zweige der vereinzelten Zedern unter dem Gewicht des Schnees und dem Ansturm des Windes ächzten. Plötzlich gab es einen heftigen Windstoß und Benjamin sah, dass das große Zelt zusammengebrochen war, in das sein Freund vorhin gekrochen war.

Benjamin rannte los. Seine Frau, Mary, und mindestens zwanzig weitere Personen hatten auch in diesem Zelt geschlafen. Sie alle waren jetzt unter den Zeltstangen, der Zeltplane und den schweren Schneemassen begraben. Mit tauben Händen versuchte Benjamin, die gefrorene Zeltplane hochzureißen. Doch der Schnee drückte die Plane nach unten und nahm den Leuten, die darunter begraben waren, die Luft zum Atmen. Die Zeltstangen waren in den aufgeweichten Boden getrieben worden. Doch nun war die Erde gefroren. Die Leute im Zelt konnten die Zeltstangen nicht herausziehen.

Benjamin spannte alle Muskeln an und zog kräftiger. Ein kleines Mädchen, das unter dem Zelt begraben war, fing an zu schreien. Eine Frau begann zu schluchzen, während sie sich von der eisigen Zeltplane zu befreien suchte, die sie zu ersticken drohte. Unsichtbare Hände versuchten, die Plane nach oben zu stoßen. Die Leute waren unter dem Zelt gefangen.

Benjamin kroch hektisch an der Außenseite des Zeltes entlang, bis er die Öffnung gefunden hatte. Schnell fegte er den Schnee herunter und zwängte sich durch die Öffnung unter die nasse Plane. Dann stand er langsam, ganz langsam wieder auf. Die Zeltplane lag auf seiner Schulter.

Benjamin schrie: „Hierher! Kriecht hierher!“ Aber kaum jemand hörte ihn, weil seine Stimme wegen seiner Halsentzündung so leise war. Benjamin schrie lauter. Dieses Mal verstanden zwei Männer, was er rief, und krochen in seine Richtung. Als sie dort waren, wo Benjamin die Zeltplane hochgehoben hatte, standen sie auf und halfen mit, die feuchte Plane zu halten. Nach und nach krochen nun alle Leute aus dem Zelt in die Schneenacht hinaus.

Die anderen Mitglieder waren inzwischen wach geworden und holten den Schnee mit Bratpfannen und Kochtöpfen von dem zusammengestürzten Zelt. Die Morgendämmerung schickte die ersten Lichtstrahlen über den Horizont. Sie rollten das Zelt zusammen und bereiteten sich auf einen weiteren langen Tag durch den Schnee vor.

Als sieben Tage später die ersten drei Helfer aus Salt Lake City kamen, jubelten die Pioniere. Nur Benjamin jubelte nicht mit. Sein Hals war wund und geschwollen. Aber als es darauf angekommen war, hatte er nach besten Kräften geschrieen.

Nach der Lebensgeschichte von Benjamin Platt, niedergeschrieben von seiner Tochter.

Das Einzige, was zählt, ist, dass Sie sich bemühen, so gut zu sein, wie Sie nur können. Und wie schaffen Sie das? Richten Sie Ihren Blick auf die wichtigsten Lebensziele, und gehen Sie Schritt für Schritt voran.“

Elder Joseph B. Wirthlin vom Kollegium der Zwölf Apostel („Ein Schritt nach dem anderen“, Liahona, Januar 2002, Seite 29.)