2019
Debbie Cole aus Leinster in Irland
September 2019


Gelebter Glaube

Debbie Cole

Leinster, Irland

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Debbie Cole

1989 wurde Debbie Cole im Alter von 19 Jahren Opfer sexueller Gewalt. Schwester Cole (hier mit ihrer Tochter) war entschlossen, sich davon nicht ihr Leben ruinieren zu lassen. Sie stützt sich auf ihren Glauben und arbeitet ehrenamtlich, um anderen Opfern sexueller Gewalt beizustehen. Außerdem hat sie sich für eine Gesetzesänderung eingesetzt, die andere vor Sexualstraftätern schützen soll.

Leslie Nilsson, Fotograf

Am Tag danach fragten mich einige Freundinnen, ob ich nicht etwas Alkohol wolle, um das Geschehene zu vergessen. Ich war damals seit etwas über einem Jahr Mitglied der Kirche, aber ich war nicht aktiv. Aber irgendwie war mir tief im Inneren klar: Wenn ich jetzt zum Alkohol greife, dann werde ich süchtig.

Als ich nach ein paar Tagen wieder klarer denken konnte, wusste ich, dass dieser Überfall zwar Teil meines Lebens war, dass er mein Leben jedoch nicht zugrunde richten würde. Ich stand die Gerichtsverhandlung durch. Ich erinnere mich noch daran, dass mir kurz vor der Urteilsverkündung von einigen gesagt wurde, der Mann, der mich überfallen hatte, sei ja in Wirklichkeit ein guter Mensch aus einer ehrbaren Familie und so ein Übergriff passe doch überhaupt nicht zu ihm. Er hätte damals einen Fehler gemacht, weil er eben betrunken gewesen sei, aber er sei doch so reumütig und komme gar nicht damit klar, was er da getan hatte. Diese Darstellung brachte mich dazu, den Richter um ein mildes Urteil für ihn zu bitten.

Am Tag der Urteilsverkündung gab ich meine Aussage zu den Auswirkungen seiner Tat auf mich als Opfer zu Protokoll und sagte dem Richter, der Mann habe in seiner Trunkenheit einen Fehler gemacht und ich sei der Meinung, er gehöre in psychiatrische Behandlung, nicht aber ins Gefängnis. Der Richter dankte mir und verurteilte den Mann aufgrund meiner Aussage nur zu einer sechsjährigen Haftstrafe. Danach versuchte ich, mein Leben weiterzuleben. Ich heiratete und bekam Kinder.

1997 oder 1998 erhielt ich telefonisch die Nachricht, dieser Mann sei wieder in die Schlagzeilen geraten. Er hatte nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis drei weitere Frauen vergewaltigt. Alles Vorgefallene war mir auf einmal wieder ganz präsent. Ich fühlte mich gewissermaßen mitschuldig, weil ich mich damals ja für diesen Mann eingesetzt hatte.

Meine Schuldgefühle führten zu einer Depression. Ich war damals ein starkes Mitglied der Kirche, aber dennoch war es schwer. Ich war so durcheinander, dass ich die feine, leise Stimme mitunter gar nicht wahrnehmen konnte. Priestertumssegen waren hilfreich, denn sie ließen mich besser begreifen, was der Vater im Himmel mir zu dieser Zeit sagen wollte. Heute ist mir klar, dass ich diese Zeit nur mithilfe des Evangeliums durchstehen konnte.

Jahre später, als sich eine gute Freundin das Leben nahm, beschloss ich, Spenden zu sammeln, und zwar für eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Suizidopfern. Kurze Zeit später rief mich eine der Gruppenkoordinatorinnen an. Sie sagte, es gäbe eine weitere ehrenamtliche Tätigkeit und dafür gehe ihr mein Name nicht aus dem Sinn.

Sie wollte wissen, ob ich bereit wäre, ehrenamtlich in einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer mitzuarbeiten. Ich würde mit den Opfern sprechen, mit ihnen die anstehenden Schritte durchgehen und ihnen eine Therapie empfehlen. Außerdem sollte ich sowohl den Frauen als auch deren Angehörigen eine Stütze sein. Ich sagte der Koordinatorin, mein Name gehe ihr wahrscheinlich deshalb nicht aus dem Sinn, weil ich selbst so etwas durchgemacht hatte. Ich durchlief also die Schulung und war einige Jahre lang ehrenamtlich tätig.

Das war eine sehr lohnende Erfahrung. Wann immer ich ins Krisenzentrum gerufen wurde, sprach ich vorher ein Gebet: „Vater im Himmel, du kennst diese Frau. Du weißt, was sie durchgemacht hat, und du weißt, was sie braucht. Bitte lass mich ein Werkzeug in deinen Händen sein und lass mich ihr das mitteilen, was sie jetzt braucht.“

Alle Opfer, die ich auf dem Weg der Genesung begleiten durfte, machte ich darauf aufmerksam, dass sie selbst entscheiden können. Sie stehen vor der Frage: „Willst du weiterhin in der Opferrolle verharren, oder willst du wieder leben? An manchen Tagen fühlst du dich vielleicht machtlos. Aber du kannst die Macht und Kontrolle über dein Leben zurückgewinnen, wenn du nicht zulässt, dass die Erinnerung an das Geschehene deine Persönlichkeit zerstört. Dann wirst du es überwinden.“

Manchmal kann sich ein Opfer ziemlich lange nicht dazu entschließen, zur Therapie zu gehen, aber ich machte allen immer Mut und sagte ihnen, sie sollten gehen, wenn sie dazu bereit seien. Mein Bestreben war stets, dass die, die als Opfer zu mir kamen, hoch erhobenen Hauptes wieder gingen. Auf dem Heimweg dankte ich dem Vater im Himmel immer dafür, dass ich einem anderen ein wenig behilflich sein konnte. Das gab mir die Kraft, auch mein Leben wieder in die Hand zu nehmen.

Später hörte ich, dass der Mann, der mich vergewaltigt hatte, sich erneut auf freiem Fuß befand und wieder eine Frau überfallen hatte. Ich dachte mir: „Das kann doch nicht so weitergehen.“ Ich entschloss mich also, mich für eine Gesetzesänderung einzusetzen, damit Wiederholungstriebtäter härtere Strafen bekämen. Ich erarbeitete einen Gesetzesvorschlag und legte ihn dem irischen Justizminister vor. Beamte des Justizministeriums lehnten den Entwurf allerdings ab. Ihrer Meinung nach waren die bestehenden Gesetze ausreichend.

Ich ging also an die Öffentlichkeit und warb mithilfe einer Medienkampagne um Unterstützung für meinen Entwurf. Ich bin dankbar für die 30 Jahre meiner Mitgliedschaft in der Kirche, denn ich habe oft Ansprachen und Unterrichte gehalten und mir die Fähigkeit angeeignet, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Ich habe außerdem das Selbstvertrauen erworben, E-Mails zu schreiben, Telefonanrufe zu tätigen und für meine Kampagne von Tür zu Tür zu gehen. Ich arbeitete mit Journalisten aus Fernsehen, Rundfunk und Printmedien zusammen. Sie waren allesamt großartig. Sie veröffentlichten die Geschichte und waren dabei fair. Sie halfen damit meinem Anliegen und der Kampagne, und so blieb das Thema weiterhin im Blickpunkt der Öffentlichkeit.

Ich tat mich mit einem Politiker aus meiner Gegend zusammen, der mir half, einen neuen Gesetzesantrag zu entwerfen, der schließlich eine Stimmenmehrheit fand. Nach unendlich viel Mühe wurde das Gesetz am 16. Januar 2019 verabschiedet.

Während der Kampagne für das neue Gesetz fühlte ich mich oft emotional ausgelaugt. Ich musste meine Geschichte immer wieder schildern und gab immer neue Interviews im Fernsehen, im Radio und in der Zeitung. Das zermürbte mich, und manchmal schien mir die Last zu viel. Eine Art Finsternis umgab mich, und dunkle Gedanken kamen mir in den Sinn. Ich hatte das Gefühl, ich könne gar nichts ausrichten, und ich fragte mich, wieso ich es denn überhaupt versuchte. In diesen Zeiten half es mir, zu beten, in den heiligen Schriften zu lesen und mich um andere zu kümmern. Ich habe ein festes Zeugnis davon, dass das Beten wirklich hilft. Ohne das Beten hätte ich schon vor Jahren einen psychischen Zusammenbruch erlebt. Ich bat meinen Zweigpräsidenten auch mehrmals um einen Priestertumssegen. Ich bin dem Vater im Himmel dankbar, dass er mir die richtigen Menschen zur Seite gestellt hat.

Im Tempel und als Verordnungsarbeiterin habe ich großen Trost verspürt. Der Dienst im Tempel lässt mich die Liebe des Erretters zu seinen Heiligen auf beiden Seiten des Schleiers verspüren. In den vergangenen acht Jahren habe ich auch gelernt: Wenn man eine Eingebung erhält, darf man nicht warten, sondern muss handeln. Die Schriftstelle, die mir mein Leben lang Kraft gegeben hat, steht in 1 Nephi 3:7: „Ich will hingehen und das tun, was der Herr geboten hat.“ Ich bin so gesegnet, weil ich diesem Grundsatz gehorsam geblieben bin.

Der Widersacher will uns einreden, wir seien weder gut genug noch klug genug. Doch mit der Hilfe unseres liebevollen Vaters im Himmel und des Erretters sind wir gut genug und auch klug genug. Ich weiß: Was auch immer ich zu bewältigen habe, Gottvater und sein Sohn lassen mich nie im Stich.

Es ist schwer, jemandem, der das nicht durchgemacht hat, begreiflich zu machen, wie es ist, ein sexuelles Trauma erlebt zu haben. Die Erinnerung daran gräbt sich tief in den Sinn. Man wird sie nicht los. Es gibt Tage, da löst irgendetwas die Erinnerung daran aus und man spürt Kraft, Selbstvertrauen und Sicherheit schwinden.

In solchen Augenblicken kann ich nur eines tun: Auf die Knie gehen und mit dem Vater im Himmel reden. Ich weiß ohne jeden Zweifel, dass er meine Gebete hört und erhört. Ich bin von göttlicher Herkunft, und dieses Wissen gibt mir Kraft, auch dann weiterzumachen, wenn es schwer ist.

Das Wissen, dass mein Erretter mich liebt, schenkt mir Hoffnung und Perspektive. Ich mag diese Aussage von Elder Jeffrey R. Holland vom Kollegium der Zwölf Apostel: „Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch so tief sinkt, dass die Lichtstrahlen des unbegrenzten Sühnopfers Christi ihn nicht zu erreichen vermögen.“ („Die Arbeiter im Weinberg“, Liahona, Mai 2012, Seite 33.) Der Erretter kann uns immer helfen – ganz gleich, wo wir uns befinden oder was wir gerade durchmachen. In schwierigen Zeiten nehme ich ihn mir zum Vorbild, damit ich weiß, was ich tun soll.

Es bedarf ungeheurer Anstrengungen, nach einem traumatischen Erlebnis weiterzumachen, aber dank Jesus Christus ist es möglich. Ich bin dankbar für ihn und sein Evangelium. Ich bin auf vielerlei Weise gesegnet worden.

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Debbie with her daughter

Debbie Cole und ihre Tochter Azaria. Schwester Cole fand Kraft durchs Gebet. Sie spürte die liebevolle Unterstützung des Vaters im Himmel bei ihren Problemen und bei ihrem Bemühen, die Gesetzeslage in Irland zu verbessern.

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Debbie with daughter in their kitchen

Das Evangelium ist Schwester Cole ein großer Segen. Sie ist dankbar dafür, dass sie mit ihrer Familie immer wieder über ihr Zeugnis sprechen kann. „Der Erretter kann uns immer helfen – ganz gleich, wo wir uns befinden oder was wir gerade durchmachen“, sagt sie.

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Debbie with daughter on the couch

Durch ihre Beziehung zum Vater im Himmel und zu ihrem Erretter Jesus Christus findet Debbie Cole die Kraft, ihrer Familie, den Mitgliedern der Gemeinde Mullingar und vielen Menschen an ihrem Wohnort eine große Stütze zu sein.