2023
Wie wir bleibende Erinnerungen schaffen
Februar 2023


Botschaft eines Apostels

Wie wir bleibende Erinnerungen schaffen

Elder Ulisses Soares vom Kollegium der Zwölf Apostel und seine Frau Rosana im Gespräch

Elder Soares: In vielen lateinamerikanischen Familien entstehen bleibende Erinnerungen bei gemeinsamen Mahlzeiten – auch in unserer Familie. Jede Gelegenheit wurde genutzt, um zusammenzukommen, zu kochen und köstliche Speisen zu genießen. Geburtstage, Feiertage und auch die Sonntage standen im Zeichen der Familie. Diese Tradition war an uns weitergegeben worden. Selbst als wir dann drei Kinder hatten, besuchten wir jeden Sonntag meine Familie. Wir kochten und aßen gemeinsam, verbrachten viel Zeit zusammen, halfen einander und zeigten unsere Zuneigung.

Rosana Soares: Familiengeschichten und -traditionen prägen unsere Persönlichkeit. Einige der Erzählungen und Bräuche werden überliefert, andere wiederum wollen aufgespürt werden. Wenn wir die Geschichte unserer Familie erforschen, können wir Kraft aus dem schöpfen, was wir über diejenigen herausfinden, die uns vorangegangen sind – Kraft, die uns besser verstehen lassen kann, wer wir sind und wohin wir gehören.

Elder Soares: Aus welchen Familiengeschichten schöpfen Sie Kraft? Welche Traditionen halten Sie aufrecht? Wenn Ihnen spontan nichts einfällt – auch nicht schlimm. Wir möchten Sie ermutigen, welche aufzuspüren. Denken Sie daran, Familiengeschichte ist nicht nur das, was lange zurückliegt. Überlegen Sie, was Sie selbst in jüngerer Vergangenheit erlebt und getan haben und wie sich dies nun auf die Gegenwart auswirkt. Oder Sie erschaffen einfach Ihre eigenen Traditionen! Die Verbindung aus Vergangenheit und Gegenwart macht Sie zu genau dem Menschen, der Sie sind.

Kindheitserinnerungen

Elder Soares: Ich hatte einen zwei Jahre älteren Bruder, der nicht gut hören könnte. Er hatte große Schwierigkeiten, sich mitzuteilen. Also fungierte ich im Grunde als sein Begleiter, griff ihm unter die Arme und half ihm, sich zu verständigen. Ich musste die Gebärdensprache lernen, um für ihn in der Kirche dolmetschen zu können. Eines Tages sollte er in der Kirche eine Ansprache halten. Er war jedoch nicht in der Lage, verständlich zu reden. Doch ich setzte mich mit ihm hin, sprach in Gebärdensprache mit ihm und half ihm, seine Ansprache zu Papier zu bringen. In der Abendmahlsversammlung standen wir dann Seite an Seite am Rednerpult, und ich las die von ihm formulierten Worte vor.

Meine Eltern waren sehr gläubige, treue Menschen. Als sie sich zum Evangelium bekehrten, änderte sich ihr Leben für immer. Sie haben mir eine neue Perspektive eröffnet, indem sie hart dafür arbeiteten, dass ich später ein anderes Leben führen konnte. Das Evangelium Jesu Christi erfüllte sie mit so großer Freude, dass sie gleich nach ihrer Taufe anfingen, ihre Nachbarn zu sich nach Hause einzuladen, wo die Missionarslektionen durchgenommen wurden.

Rosana Soares: Mein Vater und wir anderen bei uns Zuhause waren nicht religiös. Doch mein Vater hat sich jeden Abend hingekniet und gebetet. Dabei habe ich ihn schon beobachtet, als ich noch sehr klein war. Er lehrte mich nicht mit Worten, sondern mit dem, was er tat. Als kleines Kind habe ich auch manchmal den Namen Gottes missbraucht. Mir war nicht klar, dass ich etwas Falsches tat. Meine Mutter wies mich dann zurecht und sagte mir, ich dürfe so nicht reden. Auch sie war nicht religiös. Aber sie wusste, was recht und was unrecht war. Ich war neun Jahre alt, als mich ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft zum ersten Mal in die Primarvereinigung einlud.

Elder Soares: Du bist in der Kirche aufgewachsen, ohne dass deine Eltern der Kirche angehörten. Trotzdem hast du einen starken Glauben an das Evangelium entwickelt und dich dann entschieden, dein Leben lang unseren Kindern diesen Glauben zu vermitteln.

Erinnerungen an die Familiengründung

Elder Soares: Sechs Monate nach meiner Rückkehr von Mission lernte ich Rosana auf einer Tanzveranstaltung der Kirche kennen. Auch sie war erst kurz zuvor von Mission zurückgekehrt.

Rosana Soares: Ich bemerkte, dass du mich ansahst, und mein Herz klopfte. Als dann die Musik aufhörte, bist du zu mir herübergekommen und hast mich um den nächsten Tanz gebeten.

Elder Soares: Wir waren zunächst nur Freunde, doch an diesem Abend wurden uns die Augen geöffnet. Wir beide sahen im jeweils anderen ein gläubiges, junges Mitglied der Kirche und konnten uns eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Zwei Wochen darauf verabredeten wir uns zum ersten Mal. Das ist jetzt 41 Jahre her. Ich weiß noch, wie sehr es uns in den ersten fünf Jahren unserer Ehe zu schaffen machte, dass wir keine Kinder bekamen.

Rosana Soares: Das waren wirklich schwierige Jahre. Ich wurde einfach nicht schwanger.

Elder Soares: Nach dem ganzen Stress waren wir gesundheitlich ziemlich angeschlagen. Dann erhielten wir einen Priestertumssegen. Danach wurdest du operiert, und wenige Monate später …

Rosana Soares: Erfüllte sich unser Traum.

Elder Soares: Du wurdest schwanger!

Rosana Soares: Wir vertrauten wirklich auf den Herrn und erkannten greifbare Segnungen. Angesichts unserer Unerfahrenheit war es für uns beide nicht leicht. Aber es war auch eine herrliche Erfahrung.

Elder Soares: Während wir uns bemühten, unser Leben zu meistern, nahm sich der Herr unserer geistigen Bedürfnisse an. Er gab uns Geborgenheit und den Frieden, den wir brauchten. Er befähigte uns, zu arbeiten, nach vorne zu blicken und unsere Ausbildung zu beenden. Damals befanden wir uns an einem Scheideweg, und unser Leben nahm eine Richtung, die wir ursprünglich gar nicht hatten einschlagen wollen.

Die Kinder Gottes und das Haus des Herrn

Elder Soares: Es ist wichtig, dass wir unsere Kultur, unser Erbe und unsere Traditionen im Herzen bewahren. Wenn wir dann die Erfahrungen hinnehmen, die unser Leben ausmachen, verstehen wir besser, wer wir sind. Doch wir können erst vollständig verstehen, wer wir sind, wenn wir wissen, wem wir gehören! Verstehen Sie, dass Sie buchstäblich Kinder Gottes sind? Haben Sie herausgefunden, was dieses göttliche Erbe für Sie bedeutet? Diese Erkenntnis keimte bei mir bereits in jungen Jahren auf und bildet den Ursprung meines Zeugnisses. Im Laufe meines Lebens hat sie sich jedoch weiterentwickelt und gefestigt.

Rosana Soares: Wir können unsere geistigen Wurzeln wiederentdecken, wenn wir – nicht nur einmal, sondern immer wieder – in den Tempel gehen. Dort können wir etwas über den Plan erfahren, den Gott für uns hat – und wir lernen stets hinzu! Dort können wir den lärmenden Stimmen entgehen, die nicht müde werden, uns davon abzulenken, wer wir wirklich sind. Dort haben wir die Möglichkeit, bei der größten aller Unternehmungen mitzuwirken, nämlich diejenigen aus unserer Familie zu sammeln, die zu Lebzeiten nie die Gelegenheit hatten, heilige Handlungen zu empfangen.

Elder Soares: An jedem Tempel der Kirche weltweit steht die Inschrift: „Heilig dem Herrn – das Haus des Herrn“. Wenn wir den Tempel betreten, befinden wir uns in seinem Haus und sind daher ihm und dem Vater wesentlich näher. Alles, was innerhalb dieser heiligen Mauern geschieht, dient dem Ziel, alle sicher nach Hause zu bringen – zu dem, den wir Vater nennen.

Rosana Soares: Ich weiß, dass es viele gibt, die darauf warten, dass der Herr ihnen die Möglichkeit verschafft, für Zeit und Ewigkeit als Ehepaar vereint oder an ihre Eltern oder ihre Kinder gesiegelt zu werden.

Auch ich hoffe sehnsüchtig auf die besondere Gelegenheit, im Haus des Herrn mit meinen lieben Eltern auf ewig vereint zu werden. Nirgendwo auf der Welt lässt sich die Verbindung zu Gott und zu Jesus Christus deutlicher spüren und besser verstehen als innerhalb der Mauern des Tempels.

Wenn wir verstehen, wer wir sind, woher wir kommen und von wem wir abstammen, können wir großen inneren Frieden spüren, einen andere Sichtweise erlangen und den Sinn unseres Lebens erkennen.

Elder Soares: Im Tempel können wir nicht nur herausfinden, wer wir sind und wem wir gehören, sondern auch, wer wir werden sollen. Interessant ist: Im Zuge unserer Entdeckungsreise zeigt die Frage, wer wir sind, unsere jeweilige Einzigartigkeit auf. Die Frage, wem wir gehören, hebt hingegen hervor, worin wir uns gleichen. Wir „alle sind vor Gott gleich“ (2 Nephi 26:33), und ungeachtet unserer Unterschiede trägt jeder von uns das gleiche göttliche Erbe in sich und hat gleichermaßen die Aussicht auf eine herrliche, göttliche Bestimmung.

Rosana Soares: Die bereits erwähnten Erkenntnisse können nicht nur unser eigenes, sondern auch das Leben derer nachhaltig beeinflussen, die das gleiche Erbe wie wir in sich tragen. Wir alle spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Geschichte unserer Familie, unser Erbe, unsere Kultur und unsere Bräuche weiterzugeben. Jeder von uns ist ein Bindeglied, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Geben wir diese wichtigen Aspekte, anhand derer wir erkennen, wer wir sind und wem wir gehören, weiter, dann können wir die heranwachsende Generation zu einer Zeit stärken, da sie es am meisten braucht.

Was wir keinesfalls vergessen dürfen

Elder Soares: Unsere Kultur und unser Erbe weiterzugeben ist wichtig. Genauso wichtig oder gar noch wichtiger ist jedoch, unser Zeugnis für Jesus Christus, für sein Sühnopfer und sein Evangelium weiterzugeben. Kein künftigen Generationen überliefertes Erbe könnte größer sein als das von Generation zu Generation weitergegebene Vermächtnis unseres Glaubens.

Uns als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sollte dieser Grundsatz nicht überraschen. Im Grunde wurde das Buch Mormon ja zum Nutzen unserer Kinder geschrieben, damit sie „wissen mögen, von welcher Quelle sie Vergebung ihrer Sünden erhoffen können. Darum sprechen wir …, damit unsere Kinder … ausschauen nach dem Leben, das in Christus ist“ (2 Nephi 25:26,27).

Liebe Eltern, geben Sie Ihr Erbe an Ihre Kinder weiter, damit diese wissen, wer sie sind und wem sie gehören! Etwas Einfaches, wie ein Zeugnis, eine Geschichte, ein überlieferter Brauch, vielleicht sogar ein Rezept, kann viel bewirken.

Hoch auf dem Berg Corcovado steht die Erlöserstatue, der Cristo Redentor. Diese majestätische Statue stellt den Erretter mit ausgebreiteten Armen dar und ist zu einem der bekanntesten Wahrzeichen Brasiliens geworden.

An manchen Tagen ist das hoch über der Stadt thronende Denkmal deutlich zu sehen, gelegentlich ziehen aber auch Wolken auf und verdecken die Sicht auf die Statue. Um in einem solchen Moment etwas zu sehen, muss man sich nach oben begeben. Man muss nach oben klettern, damit man etwas sieht. So ist es auch bei Jesus Christus, unserem Erretter. Wenn wir ihn kennenlernen wollen und wissen möchten, wer er ist, müssen wir uns alle aufmachen und diesen Aufstieg wagen.

Bevor wir am Ziel anlangen und erkennen, wer er ist, muss jeder von uns seinen eigenen Weg mit etlichen Höhen und Tiefen beschreiten. Diese Erkenntnis wird uns schließlich ohne jeden Zweifel Reinheit und Frieden bringen, unsere Sicht ändern, uns Erfüllung finden lassen und uns Kraft und ein Zuhause in der Familie Gottes geben.

Sein Leben ist vor uns ausgebreitet, wir lesen von seinem vollkommenen Beispiel und von seinen Geboten. Wenn wir all das, was ihn ausmacht, für uns entdecken, setzt dies den höchsten Maßstab dafür, wie wir leben, welche Art von Beispiel wir geben und welche Gebote wir halten sollen. Dann sind wir bestrebt, so zu werden wie er, und stellen fest, dass wir auf ihn und sein Sühnopfer angewiesen sind. Durch das Sühnopfer Jesu Christi können wir Reinheit und inneren Frieden finden. Hierzu müssen wir uns bemühen, unseren Willen dem des Vaters zu unterwerfen, wie es der Erretter tat.

Wenn wir den Herrn kennenlernen, nehmen wir die richtige Perspektive ein und führen ein erfülltes Leben – selbst in den finstersten Stunden. Als ein plötzlicher Herzinfarkt dem Leben meines Vaters ein tragisches Ende setzte, war dies einer der kummervollsten Augenblicke meines Lebens. Doch mein Kummer wurde noch gesteigert, als ich bald darauf einen Bruder und kurz danach einen weiteren Bruder verlor. In dieser schwierigen Zeit mussten meine liebe Frau und ich zudem noch den Verlust zweier Kinder ertragen – eines wurde zu früh geboren und überlebte nicht, das andere war eine Fehlgeburt. In solchen finsteren Stunden – Stunden voll Trauer und Schmerz, Verlust und Verzweiflung, Prüfung und Bedrängnis – ist zu Christus zu kommen der sichere Weg, wieder einen Lichtschimmer zu sehen, der in uns nach und nach heller werden kann und mit der Zeit zu Hoffnung und Heilung führt.

Wir werden feststellen, dass wir Kraft empfangen, wenn wir den Herrn kennenlernen, und in der Familie Gottes ein Zuhause finden. Er nimmt uns so, wie wir sind. Wenn wir dann zu ihm kommen und von ihm lernen, können und werden wir immer mehr wie er werden.

Zu diesem Prozess des Werdens gehört auch, dass wir bei der Sache mitwirken, die man die Sammlung auf beiden Seiten des Schleiers nennt. Aus den heiligen Schriften erfahren wir: Wenn wir dem Herrn durch Tempelarbeit und familiengeschichtliche Forschung helfen, „die Unsterblichkeit und das ewige Leben des Menschen zustande zu bringen“ (Mose 1:39), werden wir buchstäblich Befreier auf dem Berg Zion (siehe Obadja 1:21). Was bedeutet das? So, wie der Erretter sein Leben für alle Menschen als Opfer dargebracht und uns dadurch befreit hat, werden auch wir ein ganz klein wenig zu Errettern oder Befreiern für diejenigen, die ohne uns, die wir hier auf der Erde weilen, und ohne unsere Hilfe keine Möglichkeit haben, die heiligen Handlungen der Errettung und Erhöhung zu empfangen. Kurzum: Diese Arbeit hilft uns bei unserem Bestreben, mehr wie Jesus Christus zu werden.

Ich verheiße Ihnen: Sie werden anfangen, den Herrn zu sehen, wie er ist, wenn Sie sich ihm anschließen und mit ihm das Werk unseres Vaters vollbringen und denjenigen, die nie die Gelegenheit hatten, den Herrn zu empfangen, helfen, den Weg der Bündnisse zu beschreiten. Sie werden wie er sein und erkennen, wer Sie sind und wie außergewöhnlich Sie tatsächlich sein können!