Liahona
Liebliches Selbongen – aus etwas Kleinem geht etwas Großes hervor
März 2024


Liebliches Selbongen – aus etwas Kleinem geht etwas Großes hervor

738 Kilometer östlich von Berlin liegt Selbongen, ein von Seen umgebenes, verträumtes Dorf in Ostpreußen mit ca. 350 Einwohnern. Es wirkt, als wäre es ein wenig außerhalb der Welt. Hektik und geschäftiges Treiben sind dort nicht zu finden. Menschen unterhalten sich auf den Straßen, tauschen sich aus, beobachten, was im Dorf vor sich geht. Man kennt sich. Es gibt einen Sklep – einen kleinen Tante-Emma-Laden. Dort kann man sich mit dem Nötigsten für den Alltag versorgen, kann aber auch kleine Leckereien erwerben. Es gibt auch ein Gemeindehaus, das heute wöchentlich zu einem katholischen Gottesdienst einlädt. Dieses Gemeindehaus hat eine besondere Geschichte und ist ein Teil der Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage – und ja, es ist als ein Wunder anzusehen!

Um das Jahr 1916 herum zog Friedrich (Fritz) Fischer der Arbeit wegen aus Selbongen nach Berlin. Er lernte dort durch zwei Arbeitskolleginnen die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage kennen, ließ sich taufen und ging auf eine Vollzeitmission. Nach seiner Rückkehr besuchte er sein Heimatdorf Selbongen. Er erzählte seiner Familie und seinen Nachbarn – also dem ganzen Dorf – vom Evangelium Jesu Christi. Der Fokus der Menschen lag zu dieser Zeit jedoch noch auf dem Tagesgeschäft, und das bedeutete, durch harte Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Und so wollten sie nicht geduldig zuhören.

Durch das Dorf spazierend, sah Fritz Fischer Kinder vor dem Schulgebäude auf der Straße spielen. Er sprach sie an und fragte sie, ob sie etwas über Christus lernen wollten. Die Kinder wollten. So gab er den Kindern Sonntagsschulunterricht. Die Kinder erzählten zuhause darüber, was sie bei Fritz Fischer gelernt hatten. Das weckte dann auch das Interesse der Erwachsenen. Bruder Fischer bat in Berlin darum, dass Missionare nach Selbongen kommen. Die ersten Missionare kamen im November 1922. Sie brachten ihr Wissen von der wiederhergestellten Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage den Menschen aus Selbongen und den umliegenden Ortschaften.

Am Mittwoch, dem 18. April 1923, gab es dann die ersten Taufen in Selbongen. Sechs Menschen ließen sich taufen. Und es folgten viele mehr, bis es innerhalb weniger Jahre ca. 240 Gemeindemitglieder in Selbongen gab.

Anlässlich der ersten Taufen am 18. April 1923 fand am 22. April 2023 eine 100-Jahrfeier der Gemeinde Selbongen im Gemeindehaus Elmshorn statt. Eingeladen waren alle, die sich mit Selbongen verbunden fühlen – sei es durch eigene Lebenserfahrung, durch Betreuung der Mitglieder oder weil Pioniergeist zu spüren war. Alle Gäste hatten die Möglichkeit, sich in ein Gästebuch einzutragen.

Bei der herzlichen Begrüßung durch Rainer Müller, den Vorsitzenden des Rates für Geschichte der Kirche im deutschsprachigen Raum, anlässlich dieses besonderen Tages wurde auf die Ausstellungen im hinteren Raum der Kapelle hingewiesen. Diese Ausstellung war bestückt mit Bildern aus den Fotoalben von Missionaren, die in der Anfangszeit in Selbongen gedient hatten. Diese Fotos hatten die ehemaligen Missionare als Spende ins Kirchenarchiv gegeben. Nach nunmehr hundert Jahren konnten die Nachfahren derjenigen, die auf den Fotos zu sehen sind, diese zum ersten Mal betrachten. Es sind Fotos, die es in den Alben der Familien nicht gibt!

Auch ein Stammbaum aller in Selbongen getauften Mitglieder und, soweit bekannt, deren Nachfahren war ausgestellt. Die Informationen zu diesem Stammbaum wurden über die Mitgliedsscheine aus dem Archiv der Kirche und über Family-Search ermittelt. Alle Teilnehmenden hatten die Möglichkeit, ihr Wissen mit einzubringen und den Stammbaum zu ergänzen. Auch Informationen und Bilder über die Anfänge der Gemeinde Selbongen waren zu sehen. Diese Informationen stammten aus Tagebüchern der Nachfahren und der ehemaligen Missionare. Die Teilnehmenden sahen auch Auszüge von Berichten über das Leben oder Berührungspunkte mit Selbongen und deren Auswirkungen auf den Einzelnen. Diese Auszüge und Berichte stammten aus dem Kirchenarchiv und dem Buch „Das Vermächtnis unserer Vorfahren“. Sie enthielten glaubensstärkende Erfahrungen aus dem Leben der betroffenen Mitglieder und zeugten von deren Treue zum Glauben.

Mit Hilfe eines Grundrisses des Dorfes mit Angaben, wer wo gewohnt hat, konnten Ergänzungen gemacht werden, um Wissen zu erweitern. Aber auch die Frage: „Wer weiß, wer das ist?“ wurde gestellt. So wurden Fotos von Mitgliedergruppen ausgestellt und um Mithilfe beim Erkennen der Personen gebeten. Die Teilnehmer hatten ebenfalls die Gelegenheit, Unterlagen und Fotos an einer Digitalisierungsstation zu hinterlegen, um diese archivieren zu lassen. Es gab auch die Möglichkeit, eigene Erfahrungen in einen mündlichen Geschichtsbericht aufnehmen zu lassen.

Bei einem traditionell üblichen Mittagessen aus der damaligen Zeit (es gab Kartoffelsuppe) konnten sich die Teilnehmenden austauschen. Es kam zu wundervollen Gesprächen, in denen eine Verbundenheit miteinander spürbar war.

Um 14 Uhr wurde dann zum Festakt geladen. Den Vorsitz führte der Gebietssiebziger Michael Cziesla, selber ein Nachfahre der Mitgliedergemeinde Selbongen. Während des Festaktes gab es eine Live-Schaltung nach Selbongen. Robert Skrocki war mit einem Teil seiner Familie vor Ort und zeigte den Teilnehmenden den aktuellen Zustand des Gemeindehauses und einen Teil des Dorfes. Manche hatten das Dorf seit Jahrzehnten nicht gesehen und waren zu Tränen gerührt. Nach dem Festakt fand dieser besondere Tag mit einem Kuchenbuffet – der klassische Streuselkuchen Fladuska durfte natürlich nicht fehlen – und weiterem Austausch untereinander seinen Ausklang.

Wie gelungen diese Veranstaltung für alle Betroffenen war, zeigen zahlreiche Danksagungen. Besonders berührend war es, die alte Heimat wiederzusehen. Es ist auch etwas Besonderss, mit den Nachfahren der glaubensstarken Mitglieder in Kontakt zu bleiben. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mag keine Gemeinde mehr in Selbongen haben, jedoch prägen, stärken und unterstützen die dort Aufgewachsenen und deren Nachkommen durch ihren Glauben und ihre Treue gegenüber unserem Erretter Jesus Christus die Kirche in anderen Einheiten – weltweit.

Quellen: Lebensgeschichte Anna und Otto Fischer; Selbongen Branch manuscript history and historical reports, 1921–1938, 1965–1971, Seite 5.