2021
Die schützende Hand eines liebenden Vaters
Juli 2021


Stimmen aus vergangenen Zeiten

Die schützende Hand eines liebenden Vaters

Wien (RHS): Als ich ihr Heimlehrer wurde, war Schwester Heymann bereits eine sehr betagte Frau. Sie strahlte einen inneren Frieden aus, der mich vom ersten Kontakt an berührte, und sie hatte ein unerschütterliches Vertrauen zu ihrem Vater im Himmel. Mein Mitarbeiter in meiner Heimlehrberufung war einer meiner Söhne. Ich denke, sie hat durch die gemeinsamen Stunden sowohl meine als auch die Entwicklung meines Sohnes sehr beeinflusst. Bei einem unserer Besuche schüttete sie ihr Herz aus und berichtete in tiefer Dankbarkeit, wie sehr sie die schützende Hand des Herrn in ihrem Leben begleitet hatte. Sie erzählte uns, was ihr Herz so tief ergriff. In ihren Worten konnte man den Frieden und die Dankbarkeit dem Herrn gegenüber spüren. Da waren keine bösen Gefühle in ihrem Herzen – nur Dankbarkeit!

Während des Zweiten Weltkrieges lebte Schwester Heymann mit ihren drei Kindern in Dresden. Ihr Mann war nicht bei ihr, denn er diente als Soldat an der Front. Schwester Heymann kannte die Kirche und das Evangelium damals noch nicht. Aber in ihrer Seele hatte sie immer das Wissen, dass es einen liebenden Vater im Himmel gibt.

Dann kam der Tag, an dem Dresden im Bombenhagel und Feuersturm vesank. Sie befand sich mit ihren Kindern in einem nicht sonderlich gut geschützten Keller und konnte aus einem Kellerfenster das schreckliche Geschehen verfolgen. Als sie das Flammenmeer durch das Kellerfenster beobachtete, spürte sie ganz deutlich, wie der Herr ihr sagte, sie müsse den schützenden Keller verlassen und sich durch das Flammenmeer einen Weg zu den Feldern bahnen. Sie alle würden sonst an den Rauchgasen ersticken. Zugleich hatte sie das innige Gefühl, der Herr werde vor ihr hergehen und ihr den Weg freimachen.

Sie blickte ins Freie und machte eine interessante Beobachtung. Das Flammenmeer sackte manchmal großflächig in sich zusammen – als würde es Luft holen wollen, um an einer anderen Stelle dafür voll aufzulodern. In tiefem Glauben an den Herrn und mit allem Mut, den sie aufbringen konnte, verließ sie das Haus mit einem Kind im Kinderwagen und mit den beiden anderen Kindern an den Händen, um das schier Unmögliche zu tun. Und es war tatsächlich so – sie konnte so an mehreren Häuserblöcken vorbei ins freie Feld fliehen. „Der Herr ist vor mir hergegangen und hat mir immer eine Gasse freigemacht!“, erzählte sie.

Als sie im freien Feld war, erfüllte sie eine tiefe Dankbarkeit, deren Größe wir als diejenigen, die das nicht erlebt haben, kaum nachempfinden können. Doch es kam zu einer neuerlichen Bedrohung! Sie wurden von einem englischen Jagdflugzeug bemerkt. Dieses flog sie im Tiefflug an und nahm sie mit dem Maschinengewehr unter Feuer. Ein Projektil durchschlug den Kinderwagen, ohne das Baby zu treffen. Aber die anderen verfehlten ihr Ziel. Der Pilot kehrte um, damit er diesmal sein schreckliches Vorhaben vollenden könne. Aber da war ein Graben mit einer Brücke. Schwester Heymann flüchtete unter diese Brücke, worauf der Pilot seine Absicht, die Mutter mit den Kindern zu töten, aufgab.

Nach dem Krieg hatte Schwester Heymann mit ihrem Ehemann einige glückliche, gemeinsame Jahre in der DDR. Dann wurde Herr Heymann schwer krank. Er musste stationär gepflegt werden. Doch sie wollte Freunde in Österreich besuchen. Die Behörde gab ihr die Genehmigung unter der Bedingung, dass sie ohne ihren Ehepartner reise. Als sie sich von ihrem Ehemann verabschiedete, gab ihr dieser einen eindringlichen Rat: „Bitte bleibe in Österreich und komm nicht zurück. Nimm keine Rücksicht auf mich. Ich liebe dich so sehr; aber gerade deshalb gebe ich dir diesen Rat!“ Diese Situation war für Schwester Heymann sehr schwierig. Einerseits war es für sie undenkbar, ihren geliebten Ehemann zu verlassen. Andererseits hatte sie das Gefühl, dieser Ratschlag war inspiriert vom Herrn gekommen. So entschied sie sich schweren Herzens, dem Rat ihres Ehemannes gehorsam zu sein und blieb in Österreich – und kurze Zeit darauf verstarb ihr Ehemann in der DDR.

Einige Jahre später lernte Schwester Heymann durch Missionare die Kirche kennen und wusste sofort, „dies ist die Kirche des Herrn“ und ließ sich taufen. Die Möglichkeit, die unser Vater im Himmel geschaffen hat, im Tempel für immer an ihren Partner gesiegelt zu werden, erfüllte sie mit inniger Freude. Zugleich wusste sie nun, wie richtig die Entscheidung war, ihren Ehemann alleine zurückzulassen. Denn erst dadurch war die Siegelung möglich geworden.

Schwester Heymann bat mich, ich möge stellvertretend für ihren Mann an dieser heiligen Handlung teilnehmen. Es war eines der wertvollsten und schönsten Erlebnisse, die ich in meinem Leben hatte. Besonders, weil ich die Freude und Dankbarkeit im Herzen dieser Schwester erkennen konnte. Nun hatte sie die Gewissheit, dass sie mit ihrem Ehepartner für ewig zusammen glücklich sein wird und nichts mehr sie trennen kann!