Generalkonferenz
Eine Brücke zwischen den zwei wichtigsten Geboten
Frühjahrs-Generalkonferenz 2024


Eine Brücke zwischen den zwei wichtigsten Geboten

Unsere Fähigkeit, Jesus Christus nachzufolgen, hängt von unserer Kraft ab, das erste und das zweite Gebot ausgewogen und mit der gleichen Hingabe zu leben

Einleitung

Wenn meine Frau Lesa und ich im Rahmen von Aufträgen die Welt bereisen, genießen wir es immer sehr, in großen und kleinen Gruppen mit Ihnen zusammenzukommen. Ihre Hingabe an das Werk des Herrn gibt uns Auftrieb und ist ein Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi. Jedes Mal, wenn wir von einer Reise zurückkehren, fragen wir uns, ob wir wohl so viel gegeben haben, wie wir erhalten haben.

Bild
Die Regenbogenbrücke
Bild
Die Tsing-Ma-Brücke
Bild
Die Tower Bridge

Auf solchen Reisen haben wir kaum Zeit, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Wenn es jedoch möglich ist, widme ich ein paar Augenblicke einer gewissen Leidenschaft. Ich interessiere mich für Architektur und Gestaltung und bin besonders von Brücken fasziniert. Hängebrücken versetzen mich in Erstaunen. Ganz gleich, ob es die Regenbogenbrücke in Tokio, die Tsing-Ma-Brücke in Hongkong, die Tower Bridge in London oder eine andere Brücke ist, die ich gesehen habe: Ich staune, welche technische Genialität in diesen komplexen Bauwerken steckt. Brücken führen uns zu Orten, zu denen wir sonst nicht gelangen könnten. (Ehe ich fortfahre, möchte ich anmerken, dass sich, seit ich diese Botschaft vorbereitet habe, ein tragisches Brückenunglück in Baltimore zugetragen hat. Wir betrauern, dass Menschen ihr Leben verloren haben, und sprechen den betroffenen Familien unser Beileid aus.)

Eine prächtige Hängebrücke

Unlängst führte mich ein Auftrag anlässlich einer Konferenz nach Kalifornien, wo ich wieder einmal die berühmte Golden Gate Bridge überquerte, die als technisches Weltwunder gilt. Bei diesem monumentalen Bauwerk verbinden sich Formschönheit, Zweckmäßigkeit und Ingenieurskunst. Es handelt sich um eine klassische Hängebrücke mit Pylonen, die von gewaltigen Pfeilern gestützt werden. Die riesigen und imposanten tragenden Zwillingstürme, die über dem Meer in die Höhe ragen, waren die ersten Elemente, die gebaut wurden. Zusammen schultern sie die Last der langen Tragkabel und der vertikalen Hänger, die die Fahrbahn darunter halten. Das außergewöhnliche Stabilisierungsvermögen – die Kraft des Turms – ist das Geheimnis hinter der Konstruktion der Brücke.

Bild
Der Bau der Golden Gate Bridge

Golden-Gate-Bridge-Distrikt

Bilder aus der Frühphase des Baus der Brücke zeugen von diesem Konstruktionsprinzip. Jedes Brückenelement wird von zwei symmetrischen Türmen getragen, die in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden sind.

Bild
Der Bau der Golden Gate Bridge

Getty Images/Underwood Archives

Wenn die Brücke fertiggestellt ist, die zwei mächtigen Türme fest an ihrem Platz stehen und die Pfeiler in einem Fundament aus Grundgestein verankert sind, bietet sie ein Bild der Kraft und Schönheit.

Bild
Die Golden Gate Bridge

Heute bitte ich Sie, diese imposante Brücke – mit ihren emporragenden Zwillingstürmen, die auf einem soliden Fundament gebaut sind – aus dem Blickwinkel des Evangeliums zu betrachten.

Gegen Ende des irdischen Wirkens Jesu Christi, in der Woche, die wir heute die Karwoche nennen, stellte ein Pharisäer, der ein Gesetzeslehrer war,1 dem Erretter eine Frage, von der er wusste, dass es fast unmöglich war, sie zu beantworten:2 „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Der Gesetzeslehrer „wollte ihn versuchen“. Er war auf eine vorschriftstreue Antwort aus und hatte offenbar unredliche Absichten, erhielt aber eine aufrichtige, heilige, göttliche Antwort.

„[Jesus] antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.

Das ist das wichtigste und erste Gebot.“ Bei unserer Brückenanalogie ist dies der erste Turm!

„Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das ist der zweite Turm!

„An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“3 Das sind die anderen Elemente der Brücke!

Lassen Sie uns jedes der zwei wichtigsten Gebote betrachten, die Jesus Christus in seiner Antwort offenbart und angeführt hat. Stellen wir uns dabei doch die imposante Hängebrücke vor.

Liebe den Herrn

Das erste: Wir sollen den Herrn mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit unserem ganzen Denken lieben.

In dieser Antwort fasst Jesus Christus das Wesentliche des Gesetzes zusammen, das in den heiligen Lehren des Alten Testaments enthalten ist. Den Herrn zu lieben bedeutet zunächst einmal, dass wir unser Herz – unser ganzes Wesen – auf ihn ausrichten. Der Herr bittet uns, mit ganzer Seele4 – mit unserem ganzen geweihten Sein – zu lieben, und schließlich, mit unserem ganzen Denken – unserer Intelligenz und unserem Intellekt – zu lieben. Die Liebe zu Gott ist nicht begrenzt oder endlich. Sie ist unbegrenzt und ewig.

Das wichtigste und erste Gebot einzuhalten, erscheint mir manchmal so abstrakt, ja, sogar entmutigend. Zum Glück wird dieses Gebot viel greifbarer, wenn ich weitere Worte Jesu bedenke: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten.“5 Das ist etwas, was ich tun kann. Ich kann den Vater im Himmel und Jesus Christus lieben, was dazu führt, dass ich bete, mich mit den heiligen Schriften befasse und Gott im Tempel verehre. Wir lieben den Vater und den Sohn, indem wir den Zehnten zahlen, den Sabbat heilighalten, ein tugendhaftes und keusches Leben führen und gehorsam sind.

Liebe zum Herrn zeigt sich meist anhand von kleinen Taten im Alltag – Schritten auf dem Weg der Bündnisse. Bei jungen Leuten heißt das beispielsweise, soziale Medien nutzen, um aufzubauen anstatt niederzumachen, die Party, das Kino oder die Aktivität verlassen, wenn etwas nicht ihren Maßstäben entspricht, und Ehrfurcht vor Heiligem zeigen.

Bedenken Sie dieses berührende Beispiel: An einem Fastsonntag klopften Vance6 und ich an die Tür eines bescheidenen Häuschens. Wir und andere Diakone im Kollegium wussten schon, dass wir jetzt einen freundlichen Willkommensruf in starkem deutschem Akzent erwarten konnten, laut genug, dass man ihn durch die Tür hörte. Schwester Müller war eine von mehreren verwitweten Einwanderinnen in der Gemeinde. Sie kam nicht leicht zur Tür, denn sie war fast blind. Als wir in das spärlich beleuchtete Haus eintraten, begrüßte sie uns mit freundlichen Fragen: Wie heißt ihr? Wie geht es euch? Liebt ihr den Herrn? Wir antworteten ihr und sagten, dass wir gekommen waren, um das Fastopfer einzusammeln. Selbst in unserem jungen Alter erkannten wir gleich, dass sie in ärmlichen Verhältnissen lebte. Daher berührte uns ihre von Glauben getragene Antwort zutiefst: „Ich habe heute Morgen ein Zehncentstück auf den Küchentisch gelegt. Ich bin so dankbar, dass ich mein Fastopfer zahlen kann. Seid ihr bitte so lieb und steckt es in einen Umschlag und füllt den Fastopferbeleg für mich aus?“ Ihre Liebe zum Herrn baute jedes Mal, wenn wir dort waren, unseren Glauben auf.

König Benjamin verhieß jedem, der das wichtigste und erste Gebot befolgt, erstaunliche Kraft. „[Ich wünschte], ihr würdet den gesegneten und glücklichen Zustand derjenigen betrachten, die die Gebote halten. … Sie sind gesegnet in allem … und wenn sie bis ans Ende getreulich aushalten, werden sie in den Himmel aufgenommen, … in [einen] Zustand nie endenden Glücks.“7

Den Herrn zu lieben, führt zu ewigem Glück!

Liebe deinen Nächsten

Dann erklärte Jesus: „Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“8 Dies ist der zweite Turm der Brücke.

Hier schlägt Jesus eine Brücke zwischen unserem gen Himmel gerichteten Blick, der Liebe zum Herrn, und unserem auf unser Umfeld gerichteten Blick, der Liebe zu unseren Mitmenschen. Sie sind wechselseitig voneinander abhängig. Unsere Liebe zum Herrn ist nicht vollständig, wenn wir unseren Nächsten vernachlässigen. Diese auf unser Umfeld gerichtete Liebe umfasst alle Kinder Gottes – unabhängig von Geschlecht, sozialer Stellung, Hautfarbe, Sexualität, Einkommen, Alter oder ethnischer Herkunft. Wir suchen all jene auf, die verletzt, gebrochen oder gesellschaftlich benachteiligt sind, denn „alle sind vor Gott gleich“9. Wir stehen den Schwachen bei, heben die herabgesunkenen Hände empor und stärken die müden Knie.10

Dazu ein Beispiel: Bruder Evans11 war überrascht, als er die Eingebung erhielt, sein Auto anzuhalten und an eine unbekannte Tür einer unbekannten Familie zu klopfen. Als eine verwitwete Mutter von mehr als zehn Kindern die Tür öffnete, erkannte er gleich ihre schwierigen Umstände und große Bedürftigkeit. Das Erste, was fehlte, sah man sofort: Farbe für ihr Haus. Danach kümmerte er sich viele Jahre lang um diese Familie und leistete praktische und geistige Hilfe.

Die dankbare Mutter schrieb später über ihren vom Himmel gesandten Helfer: „Sie haben Ihr Leben damit zugebracht, sich dem Geringsten von uns zuzuwenden. Wie gerne würde ich hören, was der Herr Ihnen zu sagen hat, wenn er seinen Dank für all das Gute zum Ausdruck bringt, was Sie in finanzieller und geistiger Hinsicht für andere getan haben und wovon nur Sie selbst und er wissen. Vielen Dank, dass Sie uns auf so viele Weise Gutes getan haben, … dass Sie uns Missionare gesandt haben. … Ich frage mich oft, ob der Herr immer wieder nur Sie ausgesucht hat oder ob Sie einfach derjenige waren, der zugehört hat.“

Den Nächsten zu lieben umfasst christliche Taten, Güte und Hilfsbereitschaft. Können Sie Groll loslassen, Feinden vergeben, Ihren Nächsten freundlich aufnehmen und sich seiner annehmen und sich um ältere Menschen kümmern? Jeder von Ihnen wird inspiriert werden, wenn Sie Ihren Turm der Nächstenliebe bauen.

Präsident Russell M. Nelson hat erklärt: „Anderen zu helfen – uns bewusst zu bemühen, für andere so viel oder mehr zu tun als für uns selbst – ist unsere Freude. Vor allem dann, … wenn es uns nicht so recht passt oder wir dafür über unseren Schatten springen müssen. Nach dem zweiten großen Gebot zu leben ist der Schlüssel dafür, ein wahrer Jünger Jesu Christi zu werden.“12

Eine Wechselbeziehung

Jesus sagte weiter: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“13 Dies ist sehr lehrreich. Es besteht eine wichtige Wechselbeziehung zwischen der Liebe zum Herrn und der Liebe zueinander. Damit die Golden Gate Bridge ihre vorgesehene Funktion erfüllen kann, sind beide Türme gleich stark und haben dieselbe Kraft, das Gewicht der Tragkabel, der Fahrbahn und der Fahrzeuge, die die Brücke überqueren, zu tragen. Ohne diese symmetrische Konstruktion könnte die Brücke beeinträchtigt sein, was dann sogar zum Einsturz führen könnte. Damit eine Hängebrücke ihren Zweck erfüllen kann, müssen ihre Türme ihre Funktion in perfektem Zusammenspiel erfüllen. In ähnlicher Weise hängt unsere Fähigkeit, Jesus Christus nachzufolgen, von unserer Kraft ab, das erste und das zweite Gebot ausgewogen und mit der gleichen Hingabe zu leben.

Bild
Die Golden Gate Bridge

Der zunehmende Streit in der Welt deutet jedoch darauf hin, dass wir dies manchmal nicht erkennen oder nicht daran denken. Manche konzentrieren sich so sehr darauf, die Gebote zu halten, dass sie denen, die sie für weniger rechtschaffen halten, wenig Toleranz entgegenbringen. Manchen fällt es schwer, diejenigen zu lieben, die sich dafür entscheiden, ihre Bündnisse nicht zu halten oder gar völlig auf Religion zu verzichten.

Andererseits gibt es auch Menschen, die betonen, wie wichtig es ist, andere zu lieben, jedoch nicht anerkennen, dass wir alle Gott Rechenschaft schulden. Manche lehnen den Gedanken völlig ab, dass es so etwas wie absolute Wahrheit oder Richtig und Falsch gibt, und meinen, das Einzige, was von uns verlangt wird, sei uneingeschränkte Toleranz und Akzeptanz der Entscheidungen anderer. Jedes dieser Missverhältnisse könnte Ihre geistige Brücke zum Kippen oder gar zum Einstürzen bringen.

Präsident Dallin H. Oaks beschrieb dies folgendermaßen: „Uns ist also geboten, jeden Menschen zu lieben, denn Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehrt uns, dass jeder unser Nächster ist. Jedoch darf unser Eifer, dieses zweite Gebot zu halten, uns nicht das erste vergessen lassen, nämlich Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit unserem ganzen Denken zu lieben.“14

Zum Abschluss

Die Frage an einen jeden von uns lautet also: Wie bauen wir unsere eigene Brücke des Glaubens und der Hingabe und errichten hohe Brückentürme der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten? Wir fangen einfach an. Unsere ersten Bemühungen könnten wie ein Entwurf auf der Rückseite einer Serviette aussehen oder wie ein erster grober Bauplan für die Brücke, die wir bauen möchten. Wir könnten uns ein paar realistische Ziele setzen, um das Evangelium des Herrn besser zu verstehen, oder uns vornehmen, andere weniger zu verurteilen. Niemand ist zu jung oder zu alt, um anzufangen.

Bild
Entwurf einer Brücke

Im Laufe der Zeit werden grobe Ideen durch gebeterfüllte und wohlüberlegte Planung weiterentwickelt. Neue Verhaltensweisen werden zu Gewohnheiten. Erste Entwürfe werden zu ausgefeilten Plänen. Wir bauen unsere persönliche geistige Brücke, indem wir den Vater im Himmel und seinen einziggezeugten Sohn sowie unsere Brüder und Schwestern, mit denen wir arbeiten, spielen und leben, mit ganzem Herzen und unserem ganzen Denken lieben.

Wenn Sie künftig eine imposante Hängebrücke mit ihren emporragenden Türmen überqueren oder auch nur ein Bild davon sehen, dann denken Sie doch an die zwei wichtigsten Gebote, die Jesus Christus im Neuen Testament dargelegt hat. Mögen die Anweisungen des Herrn uns inspirieren. Mögen unser Herz und unser Denken nach oben gerichtet sein, sodass wir den Herrn lieben, und nach außen gerichtet, sodass wir unseren Nächsten lieben.

Möge dies unseren Glauben an Jesus Christus und sein Sühnopfer stärken, wofür ich Zeugnis gebe. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. „Im Neuen Testament [war der Begriff Gesetzeslehrer] gleichbedeutend mit Schriftgelehrter, was jemand war, der von Berufs wegen das Gesetz studierte und lehrte, darunter auch das geschriebene Gesetz des Pentateuch und die ‚Überlieferungen der Alten‘ (siehe Matthäus 22:35; Markus 12:28; Lukas 10:25).“ (Bible Dictionary, Stichwort „Lawyer“.)

  2. In alter Zeit hatten jüdische Gelehrte 613 Gebote in der Tora einzeln benannt und aktiv darüber diskutiert, wie wichtig die einzelnen Gebote im Vergleich zueinander waren. Vielleicht beabsichtigte der Gesetzeslehrer, Jesu Antwort gegen ihn zu verwenden. Sollte er erwidern, dass ein Gebot das wichtigste sei, wäre dies vielleicht eine Gelegenheit, Jesus zu beschuldigen, einen anderen Aspekt des Gesetzes zu missachten. Aber die Antwort des Erretters brachte diejenigen, die gekommen waren, um ihm eine Falle zu stellen, mit einer grundsätzlichen Aussage – die das Grundgestein all dessen bildet, was wir in der Kirche tun – zum Schweigen.

  3. Matthäus 22:36-40

  4. Siehe Lehre und Bündnisse 88:15

  5. Johannes 14:15

  6. Beide Namen in dieser Geschichte geändert

  7. Mosia 2:41

  8. Matthäus 22:39

  9. 2 Nephi 26:33

  10. Siehe Lehre und Bündnisse 81:5

  11. Name geändert

  12. Russell M. Nelson, „Das zweite große Gebot“, Liahona, November 2019, Seite 100

  13. Matthäus 22:40

  14. Dallin H. Oaks, Zwei wichtige Gebote“, Liahona, November 2019, Seite 73f.